Sonntag 04.06.23, 20:56 Uhr
Interview mit Agnes und Paul-Henri Meric

10 Jahre nach dem Mord an Clement Meric 2


von Heiko Koch

Am 5. Juni 2013 wurde der junge Antifaschist Clément Méric (Foto) bei einer verbalen Auseinandersetzung im 9. Arrondissement von Paris von einem Rechtsradikalen erschlagen. Seitdem gedenken im Juni jeden Jahres seine FreundInnen und GenossInnen mit unterschiedlichen Veranstaltungen und Demonstrationen in Paris an ihn. Cléments Eltern und Schwestern nehmen so oft es ihnen möglich ist an diesen Gedenkveranstaltungen teil.

Anlässlich des fünften Jahrestags der Ermordung von Clément führte ich mit seinen Eltern Agnes und Paul-Henri ein Interview in Paris.

In diesen Tagen wird es zum 10ten Jahrestag von Cléments Tod in Paris vom 1. bis 6. Juni wieder eine Reihe von Gedenkveranstaltungen geben. Ich habe den 10ten Jahrestag erneut zum Anlass genommen, ein Interview mit seinen Eltern zu führen. Diesmal konnte ich das Interview nicht live, sondern nur via e-mail führen.


Heiko Koch: Hallo Agnes, Hallo Paul-Henri. Im Juni ist es zehn Jahre her, dass Euer Sohn Clément gestorben ist. Seinem Tod wird in Paris mit Veranstaltungen und Konzerten, Versammlungen und Demonstrationen gedacht, die von seinen FreundInnen und GenossInnen organisiert werden. Welche Gedanken gehen Euch in diesen Tagen durch den Kopf?

Agnes und Paul-Henri Meric: In militanten Kreisen wird oft behauptet, dass Clément – wie auch andere Opfer – durch unsere Kämpfe weiterlebt. Das mag wie eine Floskel klingen, aber für uns ist es das nicht: Natürlich ist Clément tot und sein Tod erinnert uns immer wieder an ihn. Aber diese Realität lässt auch Raum für ein zusätzliches Leben: Clément hat uns ein belebendes Vermächtnis hinterlassen: die Begegnung mit seinen Kameraden, den Wunsch, seine Kämpfe fortzusetzen, den Sieg nicht tödlichen Ideen zu überlassen, den Glauben an die militante Fähigkeit, eine harmonischere und gerechtere Gesellschaft zu schmieden.

Heiko: Werdet Ihr und Clemens‘ Schwestern an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen?

Agnes und Paul-Henri: Ja, wir werden an den Gedenkveranstaltungen teilnehmen, wie wir es fast jedes Jahr mit den Kameraden in Paris getan haben, und auch bei uns zu Hause in Südwestfrankreich, wenn es möglich war.

Heiko: Werdet Ihr an diesem Tag mit Eurer Familie zusammen­kommen?

Agnes und Paul-Henri: Wir werden mit einem Teil unserer Familien in Paris sein: Töchter, Bruder, Nichten … Viele Menschen in unseren Familien fühlen sich sehr betroffen, auch wenn nicht alle kommen, weil nicht alle diese Modalitäten des Gedenkens bevorzugen.

Heiko: Was hat der Tod Cléments und die besonderen Umstände seines Todes mit Euch und Eurer Familie gemacht?

Agnes und Paul-Henri: Die Umstände von Clements Tod haben natürlich dazu geführt, dass unsere Familie aufmerksamer auf die Gefährlichkeit rechtsextremer Gruppierungen achtet, von denen wir zuvor vielleicht eine etwas folkloristische Wahrnehmung hatten. Dennoch leben wir nicht in einer ständigen Besessenheit von diesen Gefahren. Stattdessen widmen wir uns lieber einem optimistischeren Aktivismus, der mehr auf Brüderlichkeit als auf Widrigkeiten setzt.

Heiko: Findet Ihr die Gedenkfeier in Paris angemessen oder habt Ihr andere Wünsche bezüglich Form und Inhalt der Gedenkfeier? Wie beurteilt Ihr die Gedenk- und Erinnerungspolitik vor dem Hintergrund der französischen Gesellschaft und ihrer aktuellen Entwicklung?

Agnes und Paul-Henri Meric: Der Jahrestag des Todes von Clément: die Konzerte, Versammlungen und Debatten, die Vorstellung des von Libertalia herausgegebenen Buches „Clément Méric, une vie, des luttes“ (Clément Méric, ein Leben, Kämpfe), die Demonstration, die Andacht am Ort des Angriffs… All diese bemerkenswerte Organisationsarbeit wird von Cléments Genossinnen und Genossen geleistet, die hauptsächlich in der AFA und der Gewerkschaft Solidaires aktiv sind. Wir finden, dass sie vollkommen angemessen sind: Sie vermischen auf glückliche Weise die Ehrung von Clément mit der Unterstützung der Kämpfe, in denen er sich engagiert hat. Diese Tage sind auch eine Gelegenheit, neue Kampfgebiete in den Vordergrund zu stellen.

Dieses Gedenken ist auch eine antifaschistische Mobilisierung, die zu einem Zeitpunkt, an dem in Frankreich viel von der Agitation rechtsextremer Gruppierungen die Rede ist, eine besondere Bedeutung erlangt.

Heiko: Vor fünf Jahren gab es in Paris ein Treffen zwischen verschiedenen Familien von Opfern rechtsextremer und staatlicher Gewalt. Was ist aus diesem Treffen hervorgegangen? Was waren die Erfolge und Misserfolge dieser Zusammenarbeit?

Agnes und Paul-Henri: Der Plan, in Frankreich ein Kollektiv solidarischer Mütter nach dem Vorbild der in Italien und Spanien sehr aktiven Mütter zu gründen, wurde kaum verwirklicht. In der Praxis hat es im Wesentlichen dazu beigetragen, den Kampf von Geneviève, der Mutter von Antonin Bernanos (die zusammen mit Agnès die Initiative ins Leben gerufen hat), für ihren Sohn und auch für andere inhaftierte Personen und deren Angehörige sichtbar zu machen. Was uns betrifft, so haben wir aufgrund unserer Entfernung von Paris kaum daran teilgenommen. Die Beziehungen zu anderen Mütterkollektiven (Italien, Spanien) bleiben eher auf einer freundschaftlichen Ebene.

Heiko: Steht Ihr persönlich in Kontakt mit anderen Familien von Opfern?

Agnes und Paul-Henri: Ja, über die Mütterkollektive. Wir hatten auch einige Kontakte mit dem Vater von Rémi Fraisse, einem jungen Umweltschützer, der bei einer Mobilisierung gegen ein umweltschädliches Projekt durch eine Granate der Polizei getötet wurde.

Heiko: Vor fünf Jahren habt Ihr über Antonin Bernanos, einen inhaftierten Antifaschisten, berichtet. Ist er seither aus dem Gefängnis entlassen worden? Wie geht es ihm und seiner Mutter?

Agnes und Paul-Henri: Ja, Antonin ist aus dem Gefängnis entlassen worden, aber er steht immer noch unter einem jahrelangen Gerichtsverfahren, das auf eine Klage von Faschisten im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung zurückgeht, an der er bestreitet, beteiligt gewesen zu sein. Ihm und seiner Familie geht es gut, aber das Verfahren belastet sie.

Heiko: Konnten Ihr mit der Familie von Hervé Rybarczyk Kontakt aufnehmen?

Agnes und Paul-Henri: Nein, wir haben keinen Kontakt aufgenommen, das ist schade.

Heiko: Die antifaschistischen Gruppen in Frankreich bedauern, dass Macrons Politik zutiefst kapitalistisch, antidemokratisch, anti-ökologisch, repressiv und reaktionär ist. Diese Politik würde den Weg für Le Pen und den Faschismus ebnen.

Agnes und Paul-Henri: Diese Analyse wird auf der Linken weitgehend geteilt. Macrons Politik ruft Ablehnung und Zustimmung zu dem hervor, was vielen Wählern als glaubwürdige Opposition erscheint.

Heiko: Gleichzeitig würde Macron die Faschisten in Frankreich gewähren lassen. Diese würden sich mit zahlreichen Gewaltakten und Mobilisierungsaktionen in Szene setzen. Vor allem das national-revolutionäre Spektrum würde hinter den vielfältigen Gewaltaktionen stehen. Was könnt Ihr zu diesem Thema sagen?

Agnes und Paul-Henri: Die gewalttätigen Gruppierungen haben durch einige spektakuläre Aktionen Sichtbarkeit erlangt. Sie sind in der Tat besorgniserregend, aber wir machen uns viel mehr Sorgen über den Aufstieg der wahlkämpfenden extremen Rechten in der Öffentlichkeit. Für viele stellt sie keine Gefahr mehr dar und ihre Ideen durchdringen die öffentliche Meinung und die Regierungspolitik. Für uns liegt darin die größte Gefahr.

Heiko: Wie und warum hat sich die politische Situation in Frankreich seit 2013 verändert?

Agnes und Paul-Henri: Seit 2013 ist eine Regierung an die Macht gekommen, die eine brutale Politik betreibt und Brutalität gegen ihre Gegner fördert. Die Macht wird zunehmend vertikal und autoritär ausgeübt. Die wahlkämpfende extreme Rechte muss diese Praktiken nur betrachten und sich sagen, dass der Boden für sie bereitet ist.

Heiko: Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft?

Agnes und Paul-Henri: Dass die Idee des gleichen Respekts für alle Menschen, die Clément so sehr am Herzen lag, weiter vorangetrieben wird. Das beginnt damit, dass wir uns der Dominanz aller Art bewusst werden, die unsere Gesellschaften nach wie vor strukturiert. Es erfordert den Mut, sie anzuprangern. Und die Energie, neue Formen horizontalerer und egalitärerer politischer Beziehungen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu erfinden.

Heiko: Vielen Dank für dieses Interview!

Agnes und Paul-Henri: Danke dir Heiko für deine wachsame Aufmerksamkeit für die Opfer rechtsextremer Gewalt in Europa und anderswo.


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