Samstag 30.11.24, 12:41 Uhr

„Die Tötung dieses Menschen war kein Einzelfall“ 1


Bei der Mahnwache in der vergangenen Woche, bei der daran erinnert wurde, dass im Oktober in Bochum ein verwirrter Mann durch Polizeischüsse zu Tode kam, hat eine Rednerin über einen ähnlichen Fall in Dortmund berichtet: »Wir sind der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed. Wir arbeiten für Aufklärung und Gedenken an den am 8. August 2022 von der Dortmunder Polizei getöteten Mouhamed Lamine Dramé. Wir sind zutiefst betroffen über die Tötung eines jungen Mannes am 11. Oktober in Bochum. Was sind schon beschädigte Gegenstände oder Lärm gegen das Leben eines Menschen, das wertvollste Gut, das es gibt. Wir sprechen den Angehörigen und Freund*innen des getöteten Menschen unser tiefes Beileid aus.Wir sind fassungslos über die Häufigkeit, mit der in Deutschland, und auch hier in der Region, Menschen ihre Leben in Polizeieinsätzen ihre Leben verlieren. Denn wir wissen: Die Tötung dieses Menschen war kein Einzelfall.

Im Gegenteil – sie reiht sich ein in so viele Fälle schwerer Polizeigewalt: Allein in Dortmund und allein in den letzten zwei Jahren gab es 3 Polizeitote: Mouhamed Dramé im August 2022, nur kurz später ein Mensch durch einen Taser, diesen April ein obdachloser Mann in der Dortmunder Innenstadt. Weitere Tote in Recklinghausen und in Oer-Erckenschwick. In Herford überlebte der sechzehnjährige Bilel eine Verkehrskontrolle (!) nur knapp mit schweren, lebenslangen Verletzungen. Und es gibt sicher noch mehr Geschichten, die uns in der Flut an Nachrichten über Staatsgewalt untergegangen sind.
Einige Dinge verbinden diese Geschichten: Immer handelte es sich um Menschen, die eine oder oft mehrere Betroffenheiten teilen, zum Beispiel Rassismus, Obdachlosigkeit, Fluchterfahrung, und so oft auch psychische Krankheit.Immer eskalierte die Polizei, handelte vorschnell, stellte ausweglose Situationen her, bedrohte Menschen, die eigentlich schutzbedürftig waren. Sie priorisierte ihre Eigensicherung, obwohl sie die Situation selbst provoziert hatte, und argumentierte dann mit Notwehr.
Auch verbindet den in Bochum getöteten Menschen und Mouhamed, dass sie in ihren Wohnorten getötet wurden, Orten, die sichere Rückzugsorte sein sollten.
Mouhamed saß am 8. August 2022 im Hinterhof der Jugendhilfeeinrichtung in der Dortmunder Nordstadt, in der er untergebracht wurde, kurz nachdem er als junger unbegleiteter Mensch aus Senegal nach Deutschland geflohen war.
Seine Familie beschreibt Mouhamed als hilfsbereiten, freundlichen, fußballbegeisterten jungen Menschen, Freund, Sohn, Bruder und BVB-Fan. 2019 begann er seine Reise, erst über den Landweg bis nach Marokko, dann mit einem Boot über das Mittelmeer. Auf der gefährlichen Route erfuhr er verschiedene Schicksalsschläge – von einem Überfall, von dem er schwere Verletzungen trug, über das Ertrinken seines Begleiters auf der Überfahrt über das Mittelmeer und einer Zeit auf der Straße in Spanien. Die Flucht hinterließ ihn schwer traumatisiert.
Die Dortmunder Sozialarbeiter*innen berichten, dass Mouhamed am liebsten für sich war, im Hinterhof saß und Musik hörte. Dort wurde er am 8. August 2022 mit einem gegen seinen Bauch gerichteten Messer in der Hand entdeckt. Als er nicht auf Ansprache reagierte, rief die Jugendhilfeeinrichtung die Polizei. 12 Beamt*innen der Wache Nord kamen, umstellten Mouhamed. Wenige Minuten später war er tot – getroffen von Pfefferspray, Taser-Pfeilen und fünf Schüssen aus einer Maschinenpistole. Die Polizei war gerufen worden, um ihn am Suizid zu hindern – und tötete ihn stattdessen selbst.
Der Schmerz der Familie Dramé ist unermesslich. Auch viele Menschen in der Dortmunder Nordstadt und darüber hinaus sind schwer betroffen von der Gewalt gegen diesen jungen Menschen, der es verdient hätte, ein Leben in Dortmund zu beginnen, vielleicht seinen Traum zu erfüllen, Fußballer zu werden, und noch oft seinen BVB spielen zu sehen.

Kein Einzelfall
Mouhameds Geschichte ist eine von vielen. In den vergangenen 10 Jahren sind mehr als 30.000 Menschen bei der Überfahrt übers Mittelmeer ertrunken – das Ergebnis rassistischer Politiken der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, die Fluchtrouten kriminalisieren, illegale Pushbacks durchführen und Seenotrettung unterlassen. Jeder einzelne dieser Menschen hatte eine Familie, die auf eine erfolgreiche Flucht gehofft und alles darauf gesetzt hatte, die um ihn trauert und ihn bis heute vermisst.
Immer häufiger treffen tödliche Schüsse der Polizei Menschen, die sich wie Mouhamed in psychischen Ausnahmezuständen befanden. Diese Menschen brauchen Hilfe, Zuspruch, Gehör, mehrsprachige Gegenüber, Deeskalation und Sicherheit. Dies kann die Polizei nicht bieten. Für solche Situationen braucht es speziell geschulte Kräfte, die nicht in erster Linie „violence workers“ (Singelnstein) sind.
Wir dürfen nicht akzeptieren, dass die Exekutive so mit den vulnerabelsten Menschen dieser Gesellschaft umgeht. Es ist auch eine Lehre aus der Geschichte dieses Landes, dass gerade die Staatsgewalt die größte Gefahr für Menschen, insbesondere die vulnerabelsten von uns, sein kann – und dass wir uns bei der Aufarbeitung nicht auf eben diesen Staat verlassen können.
Dies beweist sich einmal mehr in dem aktuell laufenden Gerichtsprozess, in dem fünf der am Einsatz gegen Mouhamed beteiligten Polizist*innen aus der Dortmunder Wache Nord seit Dezember 2023 vor Gericht stehen: In der Verhandlung spielen der Mensch Mouhamed und die Forderungen seiner Angehörigen keine Rolle. Den rassistischen Darstellungen der Polizei wird eine weitere Bühne geboten. Gerechtigkeit ist von diesem Prozess nicht zu erwarten. Freisprüche, geringe Strafen oder sogar eine Einstellung des Verfahrens sind wahrscheinlich. Dann könnten die fünf Beamt*innen, unter ihnen der Einsatzleiter, der das polizeiliche Vorgehen plante, sowie der Schütze, der Mouhamed mit fünf Schüssen tötete, weiter als Polizist*innen arbeiten.
Aus diesem Anlass rufen wir rufen auf, die letzten Prozesstage und den Urteilstag solidarisch zu begleiten. Sie finden am 2., 4. und 12. Dezember je ab 9:30 am Landgericht Dortmund statt. Der Eingang für Besucher*innen ist an der Hamburger Straße 11. Wer einen Platz möchte, sollte deutlich früher vor Ort sein.

Außerdem laden wir herzlich zu unserer Demonstration zum Prozessende am Samstag, den 14. Dezember, ab 13:12 mit Start vor dem Dortmund Hauptbahnhof ein. Lasst uns zeigen, dass der Kampf um Aufklärung und ein würdevolles Gedenken an Mouhamed mit Ende des Gerichtsverfahrens nicht vorbei ist. Denn: Es geht auch darum, die strukturellen Bedingungen zu verändern, die diesen und viele weitere Tode verursacht haben – damit eines Tages Geschichten wie die von Mouhamed oder dem Menschen in Bochum nicht wieder passieren.
Für die Demilitarisierung, die Entwaffnung, die Abschaffung der Polizei.
Bis dahin: No justice, no peace!
Der Solidaritätskreis Justice4Mouhamed aus Dortmund, am 22. November 2024
Mehr unter: https://justice4mouhamed.org/ & https://www.instagram.com/solidaritaetskreismouhamed/«


Ein Gedanke zu “„Die Tötung dieses Menschen war kein Einzelfall“

  • Wolfgang Althen

    Ein Staat, der so mit seinen Schwächsten verfährt, zeigt, dass er sich vom terroristischen Gedankengut des Hitlerfaschismus nie wirklich getrennt hat und dies auch nicht wollte.
    Aus den oben genannten Fällen von polizeilichen Fehlern muss endlich eine tatsächliche Demokratisierung staatlicher Institutionen folgen.
    Klar muss immer sein, dass das Grundgesetz dazu da ist, den Menschen vor dem Staat und nicht etwa den Staat vor dem Menschen zu schützen.
    Demilitarisierung und Demokratisierung der Polizei müssen Staatsziele werden, ansonsten werden sich immer mehr Menschen von diesem Staat abwenden.

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