Donnerstag 09.05.24, 17:31 Uhr
Felix Lipski am 8. Mai 2024 auf dem Friedhof Freigrafendamm in Bochum

Wir dürfen die Lehren aus der Geschichte nicht vergessen


Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa durch die vollständige bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Wir feiern heute 79 Jahre der Befreiung des Deutschlands vom Nazismus, das Ende des größten Blutvergießens der Weltgeschichte, die Rettung der europäischen Juden vor der vollständigen Vernichtung.
Im Zweitem Weltkrieg haben 60 Millionen Menschen ihr Leben verloren, fast die Hälfte davon waren Zivilisten. Jeder Zehnte war Jude.
Am meisten betroffen waren die Sowjetunion und die Rote Armee.Das sowjetische Volk zahlte einen hohen Preis für den Sieg. 27 Millionen Menschen starben, 12 Millionen davon waren Soldaten und Offiziere.

Noch ernster war die Lage der Kriegsgefangenen. Von fast 5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind 3,5 Millionen in KZs an Krankheit, Kälte und Hunger gestorben oder wurden ermordet.

Der Ex-Bundespräsident Joachim Gauck hat den Tod von mehreren Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen als eines der größten Verbrechen der Nazi-Zeit verurteilt.

Während der Kriegszeit arbeiteten in Nazideutschland mehr als 11 Millionen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene.

In Bochum (ohne Wattenscheid) arbeiteten mehr als 30 Tausend ausländische Arbeiter, unter ihnen 5 Tausend sowjetische Kriegsgefangene und 8 Tausend Ostarbeiter. Im „Bochumer Verein“ und „Eisen und Hüttenwerk“ haben seit Herbst 1944 über 2000 aus Ungarn deportierte Juden gearbeitet. Sie wurden als Zwangsarbeiter in zwei Außenlagern vom KZ Buchenwald eingesetzt.

Während der Kriegsjahre starben in Bochum mehr als 700 sowjetische Kriegsgefangene. Sie ruhen im Massengrab im Gräberfeld Nummer 19. In den anderen Gräberfeldern ruhen ungefähr 1100 in Bochum ums Leben gekommene Zwangsarbeiter. 93ungarische Juden aus dem KZ Buchenwald ruhen auf dem jüdischen Friedhof an der Wasserstraße.

Auf dem Grabstein des Massengrabs der sowjetischen Kriegsgefangenen steht: „Die Kriegstoten aller Völker mahnen zum Frieden. Den hier ruhenden sowjetischen Bürgern, den Opfern des Nationalismus … Sie vermachen uns eine Welt in Frieden“.

Das Schicksal der kriegsüberlebenden sowjetischen Kriegsgefangenen und Ostarbeiter nach dem Heimkehr war auch sehr tragisch.  Sie wurden als Verräter behandelt. Viele wurden in den Lagern des GULAG für Jahren inhaftiert.

Wir sehen, dass gerade in den letzten Jahren fremdenfeindliche, antisemitische und rassistisch motivierte Gewalttaten zugenommen haben.

Der aktuelle Bericht des Unabhängigen Expertenkreises „Antisemitismus“ zeigt, wie verbreitet das Phänomen Antisemitismus und Antiisraelismus. Es zieht sich quer durch alle Gesellschaftsschichten in Deutschland. Antisemitismus ist ein wichtiges Merkmal des nazistischen und rechtsextremistischen Spektrums.

Deutsche Studenten und Schüler haben mangelnde Kenntnisse über die Nazizeit, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Diese Themen müssen im Schulunterricht wesentlich besser vermittelt werden und dafür braucht man gute Schulbücher und Materialien!

In fast allen Ländern der Europäischen Union werden neonazistische Bewegungen und Parteien stärker. Es finden zahlreiche Demonstrationen statt, bei denen die Teilnehmer Nazi-Symbole tragen und auf welchen nationalistische und antisemitische Parolen skandiert und israelische Flaggen verbrannt werden. In den Parlamenten vieler europäischer Länder erhalten rechte Parteien eine große Anzahl an Sitzen.

Wir dürfen die Lehren aus der Geschichte nicht vergessen: Hitlers NSDAP kam 1933 auf parlamentarischen Weg an die Macht, nachdem sie bei der Reichstagswahl auf 37% kam.

 Die Alternative für Deutschland (AfD) ist einer rechtspopulistische und teilweise eine rechtsextreme Partei.

Der Ehrenvorsitzende der AfD, Alexander Gauland sagte: „Der 8. Mai ist ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes großer Teile Deutschlands und kein Tag der Befreiung.“

Ich bin einer der weniger hier Anwesenden, welcher als kleines Kind furchtbares erlebt hat. Bombardierungen, den Versuch der Flucht mit meiner Mutter aus einer brennenden Stadt und dann zwei Jahre im Minsker Ghetto. Ich sah den Tod von Menschen die mir nahe standen, das Sterben meiner Verwandten. Ich habe gesehen, wie Menschen erschossen wurden. Ich habe auf den Straßen des Minsker Gettos Leichen gesehen. Hunger und Todesangst erlebt. Und das Leben in einer vollkommen im Krieg zerstörten Stadt.

Nie hätte ich gedacht, dass die Generation meiner Kinder und Enkelkinder so etwas im modernen Europa, in der Ukraine, erleben würde.  Zerstörte Schulen, Krankenhäuser, Kindergärten, brennende Häuser, das Sterben von Zivilisten unter einem Hagel von russischen Raketen, Luftangriffen und Drohnenangriffen. Fast 5 Millionen Ukrainer waren gezwungen, auf ihrer Heimat zu fliehen, um ihr Leben vor den Schrecken des Krieges zu retten. Mehr als 1 Million Ukrainer, darunter etwa 160.000 Kinder fanden in Deutschland Schutz und eine Obhut. Es schmerzt mich und bringt mich den Tränen nahe Telefongespräche mit meinen Freunden, ehemaligen Ghetto-Insassen aus Kiew und Odessa zu führen.Die berichten von häufigen Luftangriffen, langen Tagen in Schutzbunkern oft ohne Strom, ausreichend Wasser, Lebensmittel und Medikamenten.

Die Welle des Krieges hat auch Deutschland erreicht. Ich bin den Ländern der EU sehr dankbar, dass sie den Menschen aus der Ukraine, die vor dem Schrecken des Krieges fliehen, Schutz gewähren. Es fällt mir besonders schwer, über Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine zu sprechen, HIER, wo in Gräber Soldaten der Roten Armee, Russen, Ukrainer, Belarussen, Georgier und Menschen anderer Nationen der ehemaligen Sowjetunion liegen. Sie gaben ihr Leben im Kampf gegen Hitlers Nationalsozialismus, für die Befreiung des von den Nazis besetzten Europas und für den Frieden auf der Erde.

Ich rufe alle auf, alles zu tun, um den Krieg zu beenden, der Ukraine militärische Hilfe zu leisten und die Truppen des Aggressors aus den besetzten Teilen der Ukraine abzuziehen, damit die Menschen in der Ukraine zu einem friedlichen Leben zurückkehren können.

Ich als Holocaustüberlebender, freue mich, dass die Jugend unserer Stadt das Gedenken an die Opfer der Nazizeit, den Kampf gegen Nationalismus und rechten Extremismus weiterträgt.

Wir müssen aktiv gegen Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und religiöse Verfolgung vorgehen.

Elie Wiesel, Holocaustüberlebender, Schriftsteller und Nobelpreisträger hat gesagt:

„Wenn wir vergessen, sind wir schuldig, sind wir Komplizen.“

Nie wieder 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit

Felix Lipski, Holocaustüberlebender,
Klub STERN der Jüdischen Gemeinde Bochum