Montag 03.04.23, 07:00 Uhr

Vier Flieger 1945 in Bochum-Laer gelyncht 2


Autor: Alfons Zimmer, Katholischer Pastoralreferent in den Justizvollzugsanstalten Bochum i.R.

Die Crew der Lancester PB853 IQ-P: (von links) Davis, Masters, Kee, Morris (alle vier in Bochum gelyncht), Bawden, Griffin (stirbt im Wrack in Herbede), Gillies (misshandelt in Bo.-Werne, überlebt) Fotorechte: Australian War Memorial

Am 24. März 1945 werden in Bochum-Laer vier junge australische Flieger von Uniformierten und Zivilisten misshandelt und ermordet. Ihr großer Lancaster-Bomber wird von der Flakabwehr getroffen und stürzt in Witten-Herbede ab. Einer der sieben Crewmitglieder verfängt sich beim Absprung an der Luke und stirbt im Wrack. Sechs Flieger benutzen ihre Fallschirme und landen verstreut in Werne, Laer und Altenbochum. Aufgestachelt durch NS-Propaganda fühlen sich Wehrmachtsangehörige, örtliche Parteifunktionäre und Teile der Bevölkerung im Recht, wenn sie entgegen der Genfer Konvention die Flieger, die sich ergeben, nicht in Gefangenschaft nehmen, sondern umbringen.

Aufforderung zum Lynchmord durch Gauleiter Westfalen-Süd Albert Hoffmann vom 25.2.1945. Stadtarchiv Bochum, Foto: AZ 9662

Einen Monat zuvor hat der Gauleiter Westfalen-Süd Albert Hoffmann Verfügungen an alle Polizeipräsidenten, Oberbürgermeister und Landräte verschickt, die abgeschossenen Jabo-Piloten seien „grundsätzlich der Volksempörung nicht zu entziehen“. Die Polizei dürfe diese „Gangstertypen“ nicht schützen. Wer „dem gesunden Volksempfinden“ zuwiderhandelt, werde bestraft.

Zuerst verschwiegen, dann vergessen

Dass diese Kriegsverbrechen in den ersten Nachkriegsjahren nicht breitgetreten werden, ist nachvollziehbar. In britischen Militärgerichtsverfahren 1946 werden für die Bochumer Ereignisse zwei Todesurteile ausgesprochen und vollzogen, dazu gibt es zahlreiche Haftstrafen von bis zu 20 Jahren für die Täter.

Ex-Gauleiter Hoffmann freigesprochen. Artikel in der Westfalenpost vom 22.10.1946. Obwohl die Verfügungen heute vorliegen, konnte damals vor dem britischen Militärgericht in Recklinghausen der Befehl Hoffmanns nicht nachgewiesen werden. Stadtarchiv Bochum, Foto: AZ 9701

Viele Menschen sind bei den notgelandeten Fliegern zusammengelaufen. Dutzende beteiligen sich mit Schlägen, Tritten und Anstacheleien aktiv an den Taten. Jeder Mitwirkende ist froh, im Nachhinein nicht von britischen Militär- und deutschen Justizbehörden belangt zu werden. Aber auch Jahrzehnte später erreichen diese tragischen menschenverachtenden Vorfälle nicht mehr das Licht der Öffentlichkeit. Sie geraten in Vergessenheit. Bis heute.

In einem Aufsatz im Internet-Portal „Westfälische Geschichte“ („Heimatfront“ Westfalen zwischen Bombenkrieg und „Endkampf“, Dr. Ralf Blank) werden sie kurz erwähnt. Bochumer Fachhistoriker und Lokalhistoriker werden befragt. Nein, nichts bekannt! Und: Zwei Wochen vor Kriegsende – eher unwahrscheinlich. Gar: Höchst unglaubwürdig. Jedenfalls müsse man zwingend Belege finden.

Die sind – mit Hilfe des historisch interessierten ehemaligen evangelischen Essener Pfarrers Traugott Vitz – zu finden. In der Westfalenpost von 1946 sind die Prozesse gegen alle Täter vor dem britischen Militärgericht in Bochum im Polizeigefängnis Uhlandstraße beschrieben. Alle Originalakten liegen im britischen Nationalarchiv in London. Kopien sind gegen Gebühr erhältlich. Auch auf englischen Internetseiten (etwa https://aircrewremembered.com/morris-henry.html) sind die völkerrechtswidrigen Taten festgehalten samt Namen der Opfer und der Täter.

Täter sind Uniformierte und Zivilisten.

Gebäude der ehemaligen Verwaltung der Zeche Dannenbaum, heute ein Sitz der „Altenbochumer Werkstätten“ und des Berufskollegs Heilerziehungspflege. In der Nähe fanden drei Flieger den Tod. Mit der Schulgemeinschaft konnte ausführlich und aufklärend über die Vorfälle gesprochen werden. Ein Brief der Schülerschaft nach Australien ist unterwegs zwecks Kontaktaufnahme zu den Familien der Getöteten. Inzwischen wurde in einer australischen Zeitung ein Artikel gefunden, der die Kontakte von Schule zu Schule sehr erleichtern wird: https://warwicktoday.com.au/entertainment/2021-11-20/flight-sergeant-james-noel-griffin-raaf/

Ein großer Lancaster-Bomber startet am 24. März 1945 um 13 Uhr von einem Militärflughafen an der englischen Ostküste. Ziel sind Industrieanlagen in Bochum-Werne und Langendreer. Das Flugzeug wird getroffen, sechs Flieger der siebenköpfigen Crew springen ab und landen im Großraum Laer. Der erste kommt um 16 Uhr auf einem Feld vor der Zeche Dannenbaum herunter. Eine Menschenmenge läuft zusammen, Leute schlagen ihn und verbringen ihn in ein russisches Kriegsgefangenenlager, Dannenbaumstraße 39. NSDAP-Ortsgruppenleiter Heinrich Ihde eilt herbei. Er verlangt die Herausgabe des Gefangenen. Er wolle den Flieger der Polizei überstellen. Der Lagerkommandant erlaubt dies nach Telefonat mit der NSDAP-Kreisleitung. Wenige Meter vom ehemaligen Verwaltungsgebäude der Zeche (heute „Altenbochumer Werkstätten“ und Berufskolleg für Heilerziehungspflege) wird der junge Australier weiter mit Stöcken geschlagen, getreten, schließlich von Ihde erschossen.

Ebenso ergeht es den beiden nächsten Notgelandeten. Sie werden im Laufe des späten Nachmittages ebenfalls ins russische Kriegsgefangenenlager gebracht, um etwa 20 Uhr von Ihde abgeholt und wie der erste auf dem Feld erschossen. Die drei Dannenbaum-Toten sind der Pilot Philip Morris, 25 Jahre, Robert Masters, 24 Jahre, und Kevin Kee, 20 Jahre. Umgehend werden sie auf dem Hauptfriedhof Freigrafendamm unter die Erde gebracht.

Sterbeblatt von Otto Böhme. Er wurde am 25.3.1945 als Kritiker der Fliegermorde vor dem Polizeigefängnis erschossen. Sterbebuch Bochum-Mitte, Stadtarchiv, Foto: AZ 9666

Der Mord an den Dreien hat ein tödliches Nachspiel für den Oberfeuerwehrmann bei der Werksfeuerwehr des Bochumer Vereins Otto Böhme. Er hört von den Lynchtaten, kritisiert diese („Die haben auch nur ihre Soldatenpflicht getan.“), wird denunziert, in der Nacht von Gestapomann Schmook abgeholt und vor dem Polizeigefängnis nach Mitternacht rücklings erschossen. Vom mutigen Opfer, das wegen seiner sozialdemokratischen Einstellung bekannt ist und als „Marxist“ beschimpft wird, heißt es im Sterbebuch Bochum Mitte: Am 25. März 1945 „auf der Flucht erschossen“.

Tödliches Nachspiel für Otto Böhme

Der Täter, Gestapomann Schmook, wird in einem Verfahrens- und Instanzenmarathon von 1952 bis 1958 von den Landgerichten Bochum und Dortmund zu zehn Jahren Haftstrafe verurteilt. Er ist auch Haupttäter bei den Morden im Gestapokeller am Bochumer Stadtpark kurz vor Kriegsende, 20 erschossene Zwangsarbeiter und Kommunisten, und beim Mord an fünf jungen russischen Zwangsarbeiterinnen und einem jungen Russen im Zwangsarbeiterlager „Gröppel“ an der Verkehrsstraße, Nähe Friedhof Riemke, eine Vergeltungsaktion für einen Mord an einem Wachmann durch einen geflüchteten russischen Zwangsarbeiter. Alle insgesamt 27 Tötungen werden vor deutschen Gerichten als Beihilfe zum Mord und Beihilfe zum Totschlag gewertet. Im Zweifel stellt das Gericht immer zugunsten des Angeklagten fest, dass er die Taten nicht als eigene Tat gewollt hat, sondern als „fremde Tat“, das heißt auf Befehl übergeordneter Personen. (Auf der Homepage https://junsv.nl/westdeutsche-gerichtsentscheidungen/suchen können alle Urteilsbegründungen im Detail nachgelesen werden, Suchwort „Schmook“.) Die Urteile fallen milde aus, zumal noch weitere Straftaten in die Gesamtstrafe einfließen.

Artikel aus der Westfalenpost vom 8.10.1946 zum Todesurteil für Heinrich Ihde. Stadtarchiv Bochum, Foto AZ 9661

Im Vergleich dazu sind die britischen Urteile hart. Bei ihnen zählt nicht die Befehlskette. Einen gefangenen Soldaten umzubringen, ist unmenschlich und verstößt gegen das Völkerrecht. Das muss jedem einsichtig sein, unabhängig von Lynchpropaganda und Lynchverfügungen. Das britische Militärgericht verhängt neben vielen Freiheitsstrafen zwei Todesstrafen für die Täter. Heinrich Ihde, der Dannenbaum-Täter, wird im Januar 1947 in Werl erschossen.

Todesstrafe für zwei Mörder

Zu den zum Tode Verurteilten zählt auch Friedrich Fischer, Zivilist. Er tötet den vierten Flieger John Davis in der Nähe eines Bauernhofes an der Havkenscheider Straße. Ein Flaksoldat streckt Davis zunächst mit einem Gewehrkolben zu Boden. In der Menge rufen einige: Schlagt den Hund tot! Fischer lässt sich Schusswaffen geben, die aber wegen Ladehemmung versagen. Schließlich zertrümmert er mit einem Hammer den Schädel des Australiers, erschlägt ihn. Fischer wird im Oktober 1946 im Zuchthaus Hameln gehängt.

Der fünfte Flieger landet in Werne an der Rüsingschule und wird von Umstehenden misshandelt. Vier Täter erhalten dafür 1946 Haftstrafen vom britischen Militärgericht. Schließlich ist es ein Mann der paramilitärischen Organisation Todt (O.T.), der ihn vor dem wütenden Mob schützt und zur Polizei bringt. Der sechste Flieger landet mit Beinbrüchen und wird ins Krankenhaus Kirchlinde in Castrop verlegt. Große Behandlung kann ihm dort nicht zuteilwerden wegen fehlender Ärzte. Aber er überlebt.

1947 werden alle 5 toten Flieger exhumiert (James Griffin aus einem Grab in Witten-Herbede) und auf dem britischen Ehrenfriedhof im Reichswald bei Kleve bestattet. Dort kann man ihre Grabstätten heute noch finden inmitten von 7672 Gräbern britischer, kanadischer, australischer Militärangehöriger, davon etwa 4000 Flieger.

Dürfen die Flieger Widerstandskämpfer genannt werden?

Bei uns haben die jungen australischen Flieger noch kein ehrendes Andenken erhalten. Die Frage sei erlaubt, ob man sie zu den „Widerstandskämpfern“ rechnen darf. Ohne den militärischen Eingriff der Alliierten jedenfalls, nur durch inneren Widerstand, wäre Deutschland kaum vom Hitlerregime befreit worden. Zu den Befreiern gehören westliche Alliierte genauso wie die Rote Armee, die etwa in der DDR dafür andauernde Anerkennung erhalten hat. Die sollte auch den australischen und den anderen alliierten Fliegern zuteilwerden, auch wenn sie selber nicht nur kriegswichtige Anlagen getroffen haben, sondern auch Wohngebiete.

Gedenk-Mosaik am St. Vinzenz-Kinderheim. Am 26.3.1943 kamen dort 65 Kinder durch eine britische Bombe ums Leben. Mit einer Formation von 473 Bombern griffen die Briten Gelsenkirchen an, insbesondere die kriegswichtige Raffinerie in Scholven. Der Angriff wurde auch wegen dichter Wolkendecke hinterher als Fail, als völlig missglückt bezeichnet. Die Briten verloren 31 Flugzeuge und 158 Flieger (tot und vermisst), 30 Flieger kamen in Kriegsgefangenschaft. Foto: Alfons Zimmer

Der Schutz von Zivilisten bei bewaffneten Konflikten ist formell zwar erst nach dem 2. Weltkrieg in die Genfer Konvention eingefügt worden, man wird deswegen dennoch auch die Alliierten nicht von Kriegsverbrechen freisprechen können. Wer jedoch den australischen Fliegern die Anerkennung verweigert für ihren Einsatz unter zahlreichen eigenen Opfern, muss erklären, wie der Hitlerterror und massenweises Hitlermorden anders hätten gestoppt werden können.

Verantwortlich ist der einzelne.

Die Fliegerlynchmorde in Laer sind ein weiterer Beweis für die menschenverachtende, völkerrechtswidrige Einstellung der NS-Täter, des NS-Systems. Die Geschehnisse in den letzten Kriegstagen im Großraum Laer können uns jedoch lehren, dass Verbrechen von einzelnen Menschen begangen werden, auch wenn dahinter eine Befehlskette und ein Führerstaat stehen. Es waren auch einzelne Menschen, die gegen die „Volksempörung“, gegen die Erregung der Menge und gegen die Lynchstimmung vernünftig, maßvoll, korrekt und mutig handelten. Beispiel dafür ist der uniformierte O.T.-Mann in Werne und auch Otto Böhme, der jedoch für seine kritische Äußerung teuer mit seinem Leben bezahlt.

Unterröcke aus Fallschirmseide. Flieger in Gerthe gerettet.

Erstaunliches Beispiel für widerständiges und mutiges Handeln in unserer Stadt ist die Oma des Gerther Bergmanns Friedel Högemeyer. (2021+). Der Gerther Lehrer Ulrich Kind, Organisator des Geschichtsprojektes „Kohlengräberland“ bezeugt ein Gespräch mit Högemeyer. Als Kind beobachtet dieser ein seltsames Verhalten seiner Oma, einer Kommunistin, die ungewöhnlich häufig zu ihrem Kotten hinlief.

Kurz nach Einmarsch der Alliierten in Bochum am 10. April 1945 kriecht dort hinter Stroh eine bärtige verzottelte Gestalt hervor, ein britischer Flieger polnischer Nationalität. Die Oma hat ihn ungeachtet möglicher Konsequenzen von Dezember 1944 bis April 1945 versteckt gehalten. Jetzt wird auch dem kleinen Friedel Högemeyer klar, woher die Oma ihre neuen Unterröcke hat. Die sind aus Fallschirmseide.


2 Gedanken zu “Vier Flieger 1945 in Bochum-Laer gelyncht

  • Pit

    Begriffsnivellierung.
    Man sollte alliierte Soldaten nicht unter den Begriff Widerstandskämpfer subsumieren. Das tut weder den damaligen sozialen und politischen Kontexten, noch den differenzierten Motiven gut weswegen die unterschiedlichsten Menschen in den Krieg eintraten. Man kann auch alliierten Soldaten als Teil der militärischen Streitkräfte gedenken, die Deutschland vom NS befreit haben.

    • Günter Gleising

      Ja, das find ich richtig. Ein bedeutender Beitrag von Alfons Zimmer zuu einem „vergessenen,. aber wieder aktuellen Thema.
      günter gleisng

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