Sonntag 13.11.22, 22:12 Uhr

(Migrierte) Armut in Bochum


Norbert Hermann, Bochum prekär, hat zum morgigen Vortrag von Christoph Butterwegge in Langendreer zum Thema „Armut und Reichtum“ einige Gedanken zum Thema Armut in Bochum formuliert:.»Nach offiziellen Statistiken sind etwa 20 % der Bochumer Bevölkerung als armutsbetroffen anzusehen, das wären etwa 75.000 Menschen. Davon sind (bundesweite Zahlen der Parität) etwa 6,8 % erwerbstätig (Niedriglohn und/oder Teilzeit), 5,5 % erwerbslos, 67,7 Nichterwerbspersonen (zu alt oder zu jung, erwerbsunfähig, Studis, … ). Diese Zahl steigt seit Jahren, ungeachtet aller Bekundungen, Armut, insbesondere Kinderarmut, „bekämpfen“ zu wollen. Hinzu gerechnet werden muss eine große „Grauzone“: mindestens 5.000 Menschen in Bochum wären berechtigt, mit Hartz IV, Altersgrundsicherung, Wohngeld ihr zu niedriges Einkommen aufzustocken und tun es nicht. Armut hört auch nicht plötzlich auf, wenn plötzlich die „Armutsgrenze“ überschritten wird. Etwa 20.000 Menschen arbeiten in Bochum im Niedriglohnbereich.


Es reicht auch nicht, „Armutsbetroffenheit“ allein von der Einkommensseite her zu sehen und die (Lebenshaltungs-) Kosten außen vor zu lassen. In München beispielsweise ist das Mietniveau in schwindelnder Höhe, und auch die allgemeinen Lebenshaltungskosten sind höher, weshalb sogar der Sozialhilfesatz dort höher ist als im „billigen“ Ruhrpott. Dort ist schon „arm“, wer hier als „reich“ gilt. Durch die Preissteigerungen der letzten 12 Monate dürfte sich die Lebenshaltungskostenarmut noch sehr deutlich vergrößert haben.
Ganz lebenspraktisch sieht es die „Bochumer Tafel“, die wöchentlich etwa 8.000 Menschen grundversorgt: Berechtigt sind dort Singles mit einem verfügbaren Monatseinkommen bis 1.750 €, bei 5 Personen-Haushalten sind es max. 2.800 €, was eher zu niedrig angesetzt sein dürfte (Grenzen vom 01.12.2021, vor der aktuellen Lebenshaltungskostenkrise). Etwa 35.000 Menschen in Bochum sind überschuldet, nicht alle dürften in o.g. Armutszahlen enthalten sein.
Wer noch etwas auf der „hohen Kante“ hatte, hat davon auch schon nehmen müssen: Etwa die Hälfte aller Menschen in Bochum dürfte Schwierigkeiten haben, eine plötzliche finanzielle Belastung in Höhe etwa eines halben Monatseinkommens zu finanzieren. Ein Konto-Überziehungsrahmen ist oftmals bereits ausgeschöpft oder kaum vorhanden. Hier ist die Stadt gefordert, eine unbürokratische und zinsfreie Kredithilfe zu ermöglichen.
Mit der „Bochum Strategie 2030“ (https://www.bochum.de/Die-Bochum-Strategie), im Wesentlichen wirtschaftsorientiert, verbindet die Stadt auch das Projekt „Gute Stuben“: „Treffpunkte für alle Generationen … für alle Menschen offen, gleich ihrer Herkunft und ihres sozialen Umfelds“. Es reicht aber nicht einfach die Türen offen zu halten. Projekte dieser Art werden erfahrungsgemäß eher von der Mittelschicht genutzt. Für die untere Hälfte in Bochum muss mehr getan werden. Ein „Haus des Sozialen“ muss her, zentral, mit „Filialen“ in den Stadtteilen, abseits der Behördenstellen. Ein Fremdwort in einer Stadt, die sich ein „Haus des Wissens“ schaffen will und nicht etwa ein „Haus der Bildung“ oder „der Kultur“.
Breite Information und einfacher Zugang sind nötig, das Angebot muss inhaltlich (unabhängige Beratung und Hilfe für alle Lebenslagen) und auch materiell (Aktivitäten, Kaffee + Kuchen, Imbiss …) gestaltet sein. Die betroffenen Menschen
müssen regelrecht „abgeholt“ werden, viele im wahrsten Sinne des Wortes: Viele ältere Menschen leben sehr isoliert, sind schlecht zu Fuß und wissen nichts von denMöglichkeiten, bei Krankheit oder schon geringer Pflegebedürftigkeit eine Haushaltshilfe von der Krankenkasse, der Pflegekasse oder dem Sozialamt finanzieren zu lassen. Da gibt es sehr viel unglückliche Lebenssituationen, eine wirkliche Hilfe ist dafür im Sozialsystem bislang nicht vorgesehen.


Quellenhinweise:

Armutsbericht der Parität
https://www.der-paritaetische.de/themen/sozialpolitik-arbeit-und-europa/armut-und-grundsicherung/armutsbericht-2022/

Bochum: Sozialberichterstattung-Sozialplanung (inzwischen veraltet)
https://www.bochum.de/Sozialberichterstattung-Sozialplanung

Bochum: aktuelle Zahlen
https://www.bochum.de/Referat-fuer-politische-Gremien-Buergerbeteiligung-und-Kommunikation/Statistik/Die-wichtigsten-Zahlen-zur-Bochumer-Bevoelkerung

Verschuldung in Bochum
https://www.waz.de/staedte/bochum/ueberschuldung-in-bochum-hier-leben-die-meisten-betroffenen-id233958775.html

Tafel Bochum (ggf. herunterscrollen zum 01.12.2021)
https://www.tafel-bochum-wattenscheid.de/News


Migration in Armut
In Bochum verfügten in 2020 etwa 89.000 (24 %) aller Menschen (auch) über einen nicht-deutschen Pass. Sie werden als migrationsbelastet angesehen. Menschen mit Migrationsgeschichte mit nur deutschem Pass werden nicht erfasst. Der Anteil aller Menschen in Bochum mit Migrationsgeschichte dürfte also weitaus höher liegen als die offiziellen Zahlen. Sie sind alle gesellschaftlich diskriminiert. Sie werden ebenso wie die Armutsbetroffenen in der Bochumer Politik aller Richtungen kaum berücksichtigt. Kenntnis von und Zugang zu bestehenden Einrichtungen hat nur ein
kleiner Teil.
Bundesweit gelten ca. 28 % aller Menschen mit Migrationsgeschichte als armutsbetroffen, unter ehedem Geflüchteten mehr. Das sind etwa 4 Millionen (von 14 Millionen). Obwohl Menschen mit eigener Migrationserfahrung im Jahr 2020 nur einen Anteil von 10,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung hatten, waren 38,0 Prozent der Arbeitslosengeld II-Bezieher (Hartz IV) Menschen mit eigener Migrationserfahrung. In Bochum dürften es weitaus mehr sein, in Richtung 50 %. Sie erscheinen selten in Beratungsstellen, entweder ist ihnen ihre Existenz unbekannt, oder die Schwelle ist einfach zu hoch, oder sie haben einfach Angst vor dem ganzen Gedöne. Das bringt sie oftmals in ganz prekäre Situationen. Es ist dringend nötig, ortsnah mehr niedrigschwellige solidarische Beratungsangebote außerhalb der Behörden zu haben. Auch die Jobcenter-Standorte sollten wohnortnahe sein. Statt dessen werden sie aber zusammengelegt: In Bochum sind die Standorte Querenburg/BO-Süd und Gerthe/BO-Nord aufgelöst, die Leute müssen alle zum Standort Mitte/ Universitätsstraße.


„Armutsgrenze“
Im Jahr 2021 waren in Deutschland 20,7 Prozent der Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Die Armutsgefährdungsquote ist ein Indikator zur Messung relativer Einkommensarmut und ist definiert als Anteil der Personen mit einem Äquivalenzeinkommen von weniger als 60 Prozent des Bundesmedians der Äquivalenzeinkommen der Bevölkerung in Privathaushalten. Das Äquivalenzeinkommen ist ein auf der Basis des Haushaltsnettoeinkommens
berechnetes bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Einkommen je Haushaltsmitglied. Es wird herangezogen, um die Einkommen unterschiedlich großer Haushalte vergleichbar zu machen und ergibt sich aus der Summe der Einkommen aller Haushaltsmitglieder, welche anschließend durch einen Wert dividiert wird, der üblicherweise anhand der „neuen OECD-Äquivalenzskala“ bestimmt wird. Die Armutsgrenze liegt bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens der Bevölkerung in Privathaushalten. Wer in Deutschland weniger als 14.109 Euro im Jahr verdient, gilt nach dem Stand des Jahres 2019 als armutsgefährdet.

Quellenhinweise:

Bevölkerung mit und ohne Migrationshintergrund
https://www.bpb.de/kurz-knapp/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61649/bevoelkerung-mit-und-ohne-migrationshintergrund/

Armutsgefährdungsquote in Deutschland nach Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit im Jahr 2021¹
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/436197/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-in-deutschland-nach-migrationshintergrund/

„Armutsgrenze“
https://de.statista.com/themen/120/armut-in-deutschland/#dossierKeyfigures