Montag 03.10.22, 15:03 Uhr
Redebeitrag von "Feminist struggle" auf der Kundgebung "Gemeinsam bleibt’s warm" am 1.10. 2022

Zu gefährlich für Despoten – feministischer Widerstand


Liebe Menschen,
in unserem Text thematisieren wir u.a. Gewalt gegen FLINTA, daher wollen wir an dieser Stelle eine Triggerwarnung aussprechen. „Jin, jiyan, azadî“ = Frau, Leben, Freiheit , dieser Dreisatz ist weltweit keine Selbstverständlichkeit. Ein Leben in Freiheit ist für viele FLINTA auf der Welt eine Utopie. Feministische Utopien müssen erkämpft werden. Das ist uns in den letzten Tagen nochmal sehr schmerzlich bewusst gemacht worden.

Während wir hier demonstrieren und lautstark unsere Meinungen und Forderungen nach einer friedlichen, gerechten und besseren Welt kundtun und uns weitgehend sicher sein können, dass wir dafür nicht verhaftet, geschlagen oder sogar ermordet werden, passiert genau dies genau in diesem Moment an vielen Orten der Welt und leider häufig unbeachtet von der sogen. westlichen Welt.

Unmittelbar nach Beginn des brutalen und völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine ging das Bild der 77 Jahre alte Russin Jelena Ossipowa aus  St. Petersburg viral, wie sie für handgemalte Schilder für Frieden und gegen  Atomwaffen von mehreren Polizist*innen in Kampfmontur abgeführt  und verhaftet wurde. Die Zeitung  TAZ überschrieb das Foto mit den Worten: „Zu gefährlich für Putin“ – und genau so ist es.

Die Despoten und Machthaber dieser Welt scheinen nichts so sehr zu fürchten wie protestierende FLINTA und ihre Kämpfe für eine bessere Welt.  FLINTA in der ganzen Welt fordern täglich das veraltete chauvinistische Weltbild dieser Despoten heraus.

Beispiel Belarus:
Niemals vergessen wollen wir die mutigen Frauen von Belarus, wie sie sich in weißen Kleidern den schwarzen Kampfeinheiten Lukaschenkos entgegengestellt haben und dafür schwere Gewalt, Inhaftierung, Vergewaltigung und auch Tod riskiert haben. Der Diktator sprach abfällig von „Mädchen, die Frikadellen machen können“, doch die Härte mit der diese Aktivist*innen verfolgt und bestraft wurden, zeigt doch, wie sehr er ihre Stärke fürchtet. Angeführt wurde die Widerstandsbewegung von 3 Frauen: Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maryja Kalesnikawa. Letztere weigerte sich das Land zu verlassen, wurde verschleppt und  in einem  politisch motivierten Prozess mit absurden Vorwürfen zu 11 Jahren Haft in einem Straflager verurteilt. Bis zuletzt blieb sie standhaft, formte mit gefesselten Händen ein Herz, um ihren Anhänger*innen Mut zu machen.

Beispiel Afghanistan:
Im letzten Jahr mussten wir hilflos mit ansehen, wie Afghanistan innerhalb weniger Tage im Stich gelassen und von den Taliban wieder übernommen wurde. Entgegen halbherziger Versprechungen der Taliban, hat sich die Situation von FLINTA seitdem dramatisch verschlechtert.

Frauenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen wurden und werden getötet, Schutzeinrichtungen und Mädchenschulen ab der 7.Klasse geschlossen, alleinstehende Frauen und Mädchen mit Talibankämpfern zwangsverheiratet. Frauen werden systematisch aus dem öffentlichen Leben gedrängt, Queere Menschen fürchten um ihr Leben. Trotz der tödlichen Bedrohung stellen sich immer wieder FLINTA den bewaffneten Talibankämpfern in den Weg, demonstrieren und machen auf systematische Menschenrechtsverletzungen der Taliban aufmerksam. Immer wieder bezahlen sie das mit Gesundheit und Leben, wie die beiden afghanischen Feministinnen Sarjab Pariani und Parwana Ibrahimchel, die im Januar von den Taliban verschleppt und gefoltert wurden und von denen seither jede Spur fehlt.

Wo war unsere Stimme als die beiden Feministinnen verschwanden? Wer kennt ihre Namen?

Die afghanische Künstlerin und Schriftstellerin Nadir Shahalimi schrieb in ihrem Buch „Wir sind noch da!“: „Hört diesen Frauen zu, seht wer sie sind, seht ihren Einsatz für die Freiheit und für ihre Rechte. Seht sie in einem neuen Licht, sie sind keine Opfer, sie brauchen kein Bedauern, sondern eine Plattform, Unterstützung und Solidarität.“

Beispiel Iran:
Für Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, Schulbildung und Chancengleichheit, aber auch gegen Todesstrafe und für Demokratie kämpfen FLINTA  im Iran seit der Revolution bereits seit 4 Jahrzehnten einen Kampf, von dem hier im Westen oft nichts bekannt wird und der in den internationalen Verhandlungen nicht beachtet oder als nebensächlich angesehen wird.

Und doch kämpfen diese Menschen um nichts weniger als universelle Menschenrechte.

Da ist zum Beispiel Atena, die seit ihrer Jugend gegen die Ungleichheit der Geschlechter im Iran, gegen soziale Ungleichheit und für Kinderrechte kämpft. Ganz besonders aktiv ist Atena gegen die Todesstrafe und Blutrache. Diesen Kampf  führt sie in sozialen Medien, durch Organisation von Protesten oder durch nächtliches Besprühen von öffentlichen Wänden. Bereits mehrfach wurde Atena für diesen Protest inhaftiert.  Doch kaum wird sie aus der Haft entlassen, schon organisiert sie ungebrochen den nächsten Protest – und riskiert erneute Verhaftungen.

Im Gefängnis wird menstruierenden Menschen systematisch die Würde genommen, z.B. indem ihnen Menstruationsprodukte und das rituelle Waschen vor dem Gebet während der Menstruation  verweigert werden. Offenkundig macht dies, dass es den Machthabern des Iran nur um Macht über FLINTA und ihre Körper geht und nicht um Religion!

Seit dem gewaltsamen Tod von  Mahsa Amini gehen im Iran tausende Menschen auf die Straße. Frauen verbrennen ihre Kopftücher und schneiden sich aus Protest die Haare ab. Das Regime und seine Handlanger in der Polizei gehen mit unglaublicher Brutalität hiergegen vor. Und wieder zeigt es sich: Die Mächtigen fürchten widerständige FLINTA!  Wie die Journalistin Masih Alinejad es treffend formulierte:

„Sie haben Angst vor meinem Haar, sie haben Angst vor meiner Stimme, sie haben Angst vor meinem Körper. Ich als Frau kann ein ganzes Regime verängstigen.“

Die in Teheran geborene Journalistin Golineh Atai berichtet auch von Wut und Trauer dieser mutigen Aktivist*innen im Iran, weil sie sich von der Welt verlassen und ungesehen fühlen, weil sie sich insbesondere auch von uns westlichen  Feminist*innen verlassen fühlen.

Vor dem Mut und der Unerschrockenheit dieser Menschen haben wir den allergrößten Respekt. Doch auch wir müssen uns eingestehen, dass wir diesen Protest oft nicht wahrgenommen haben – auch wir sehen viel zu oft weg.

Daher rufen wir Euch heute auf: Schaut nicht weg! Solidarisiert Euch!

Lassen wir nicht zu, dass der Kampf dieser Menschen in einigen Tagen niemanden mehr interessiert und sich diese mutigen FLINTA wieder allein gelassen und unbeachtet fühlen. Internationale Aufmerksamkeit bedeutet nicht zuletzt auch einen gewissen Schutz.

„Jin, jiyan, azadî“ (Frau, Leben, Freiheit) bedeutet auch, dass jede einzelne ermordete Frau ein Grund für eine Revolution ist!

Der Kampf von FLINTA in Belarus, Ukraine, Russland, Iran, Afghanistan, Südamerika und überall sonst in der Welt für Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und Demokratie ist auch unser Kampf!

Das ist unsere Utopie: Eine Welt ohne Gewalt, Krieg, Unfreiheit und Ungleichheit!

Für eine feministische internationale Solidarität!

Abschließend noch einige Zeilen der iranischen Dichterin Simin Behbahani auch genannt „Die Löwin des Iran“:

„Du willst mich auslöschen, aber ich werde nicht weichen von dieser Stätte. Ich werde weitertanzen, solange ich mich halten kann,

Deine Steine und Felsen fürchte ich nicht, ich bin die Flut, Du kannst meinen Fluss nicht bändigen.“


Vielen Dank