Sonntag 25.09.22, 17:50 Uhr

Gedenktag Psychiatrie-Toter 8


Der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW (LPE NRW) lädt zum jährlich stattfindenden Gedenktag Psychiatrie-Toter am 2. Oktober in Bochum ein und schreibt: »Es wird um 15 Uhr einen Gottesdienst in der Pauluskirche, Grabenstr. 9, anschließend um 16 Uhr von dort aus eine Demonstration durch die Bochumer Innenstadt geben. Die Psychiatrie kann aus verschiedenen Gründen lebensgefährlich sein. Jedes Jahr sterben in und durch Psychiatrien Menschen. Offizielle Statistiken dazu werden nicht (mehr) erhoben. Seit Jahren setzt sich der Bundesverband-Psychiatrie-Erfahrener e.V. für die (Wieder)-Einführung von Sterbefallstatistiken in deutschen Psychiatrien ein.

Häufig werden Psychopharmaka in hohen Dosen und oft auch gleich mehrere Psychopharmaka gleichzeitig verordnet. Die Liste der Nebenwirkungen und Schädigungen ist lang und erschreckend. Psychopharmaka können die Lebensqualität stark einschränken, krank machen und die Lebenserwartung verkürzen. Auch gibt es Fälle von plötzlichen Todesfällen.

Vermeintlich schützt die Psychiatrie vor Suiziden. Hingegen gibt es Untersuchungen, dass das Suizidrisiko in Psychiatrien und nach einem Aufenthalt um ein vielfaches ansteigen kann. Auch kann Suizidalität durch die Einnahme von Antidepressiva erst ausgelöst werden. Hinter Datenschutz und Schweigepflicht bleibt der Öffentlichkeit verborgen, wie viele Suizide tatsächlich in Psychiatrien stattfinden.

Auch sterben immer wieder Menschen durch direkte Gewalteinwirkungen von Mitarbeiter:innen der Psychiatrie, durch Securitys und durch die Polizei bei dem Versuch Menschen in die Psychiatrie zu bringen. In den meisten Fällen werden diese nicht einmal juristisch belangt. Ob bei Ahmet Agir aus Bremen, der nach einer Zwangsmaßnahme in der Bremer Forensik verstarb, William Tonou-Mbobda aus Hamburg, der nach einer Zwangsmaßnahme am UKE Hamburg starb, oder bei einem Rentner aus Bochum, der von der Bochumer Polizei vor seinem Haus erschossen wurde. Alle Verfahren gegen Klinikpersonal und Polizei wurden eingestellt. Die Getöteten wären an Vorerkrankungen gestorben, nicht an der eingesetzten Gewalt oder die Täter:innen hätten in Notwehr gehandelt. Im Falle Mohamed Idrissi aus Bremen, der vor seiner Wohnung von der Bremer Polizei erschossen wurde, wird in einem Wiederaufnahmeverfahren noch immer um die Anerkennung der Täterschaft eines Polizisten gekämpft.
Im Mai starben zwei Menschen in Mannheim bei Polizeieinsätzen und jüngst wurde der 16-jährige Mohammed D. im August in Dortmund mit einem Maschinengewehr von der Polizei erschossen.

Die Liste lässt sich noch lange weiter führen. Wir sind wütend und traurig. Und deshalb gehen wir auch dieses Jahr wieder am 2. Oktober auf die Straße. Wir möchten ein sicheres Leben für Alle. Schluss mit Zwang und Gewalt in der Psychiatrie und durch die Polizei.«


8 Gedanken zu “Gedenktag Psychiatrie-Toter

  • Nestor

    Ist es nicht ein bisschen perfide, Opfer von Polizeigewalt der Psychiatrie in die Schuhe zu schieben? Jedes Jahr sterben übrigens auch Menschen, weil psychische Erkrankungen zum Tabu gemacht werden, und die Psychiatrie als Ganzes zu dämonisieren wird nicht dabei helfen das zu verhindern (ihr fördert es, im Gegenteil, dadurch ungewollt eher noch). Es mag daran liegen, dass ich bisher vor allem in vernünftigen Kliniken war, aber ich kenne einige Menschen, denen die Psychiatrie das Leben gerettet hat (mich inklusive).
    Dass das Suizidrisiko nach einem Aufenthalt steigen kann, hat vielleicht auch damit zu tun, dass es denjenigen in der Klinik besser ging? Es ist schwierig sich nach Monaten aus dem behüteten stationären Leben wieder ins echte zu stürzen. Vielleicht ist in dem Fall eher das Problem, dass Krankenkassen einem zu früh die Finanzierung streichen? Man sollte nicht versuchen alle Fakten irgendwie in sein Weltbild zu biegen.
    Das Psychopharmaka nicht ungefährlich sind ist schon richtig, aber sie deswegen zu dämonisieren hilft denjenigen, die ohne sie in noch größerer Gefahr sind, nicht wirklich. Ich habe mit Psychopharmaka eine ziemliche Odyssee hinter mir, bin mir allerdings sehr sicher, dass ich ohne sie nicht mehr am Leben wäre. Wenn ihr sie also pauschal verdammt, fühle ich mich im Grunde mein Lebensrecht angegriffen.
    Ich bin nicht gegen Kritik und Reform der Psychiatrie, aber jedes Mal, wenn ich hier etwas von eurem Verband lese, kommt mir das Kotzen. Ich will damit das euch erfahrene Leid nicht kleinreden, aber reflektiert doch bitte mal ein bisschen. Wie viele Leute haben in unserer Gesellschaft „Psychiatrieerfahrung“ und wie viele unterstützen eure allumfängliche Kritik? Lernt doch mal so etwas wie Nuancen kennen und versucht mit Kritik an der richtigen Stelle anzusetzen. Da gibt es sicherlich genug von, aber dadurch, das Ganze abzulehnen, delegitimiert ihr die gerechtfertigte Kritik. Damit Polizeigewalt der Psychiatrie in die Schuhe zu schieben macht ihr euch selbst lächerlich. In der Psychiatrie läuft sicher nicht alles richtig, Zwangseinweisungen und dergleichen können sicher missbraucht werden, die Medikamente sind nicht ideal und werden trotzdem sicher auch häufiger als nötig eingesetzt, und und und. Aber Psychiatrie rettet auch Leben- Psychische Erkrankungen sind immer noch krass stigmatisiert. Wer pauschal das ganze System angreift, macht es Erkrankten nicht einfacher Hilfe zu suchen. Redet vielleicht nicht nur mit den „Psychiatrieerfahrenen“ die schlechte Erfahrungen gemacht haben, sondern auch mit denjenigen, die schwerste Erkrankungen dank der Psychiatrie in den Griff bekommen haben. Allerdings werdet ihr diejenigen mit eurer pauschalen Kritik niemals erreichen, Leute wie ich werden sich Leute wie euch fernhalten, weil ihr wie fundamentalistische Idioten wirkt. Ehrlich gesagt ist der einzige Grund, warum ich euch bei euren Pressemitteilungen nicht für Scientologen oder dergleichen halte, dass sie hier publiziert werden.

    • Jans

      Mehr Transparenz und Öffentlichkeit, wie ich die Forderungen lese, können ja wohl kaum schaden, sondern können einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung nur förderlich sein und damit indirekt auch das Verhalten von Polizei beeinflussen.

      • Nestor

        Mehr Transparenz und Öffentlichkeit sind gute Forderungen, die Art und Weise diese Forderung zu verpacken finde ich aber kontraproduktiv und gefährlich. Man kann das ganze auch reflektiert formulieren, denn die Forderungen sind völlig legitim und die Fakten stimmen ja auch mehr oder weniger. Zumindest wenn man mal die impliziten Rückschlüsse auf Kausalitäten ignoriert und so grundlegende Fakten wie den, dass der Junge nicht mit einem Maschinengewehr erschossen wurde außen vor lässt. Und da sind wir dann beim Verhalten der Polizei, ich kenne genug Beispiele, wo die Polizei Leben gefährdet hat, weil sie keine psychologisch/psychiatrische Unterstützung angefordert hat, ich würde sogar behaupten, dass das hier auch der Fall sein dürfte.

    • Norbert Hermann

      Das ist nicht korrekt und nicht fair

      Lieber Kollege, schau dir an, wie weise LPE mit Psychopharmaka umgeht: https://www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de/psychopharmaka/soll_ich_absetzten.html

      Und auch die Klinik wird als Flucht- und Rettungsmöglichkeit akzeptiert.

      Die Geschichte und die Verdienste der Antipsychiatriebewegung sind dir sicherlich bekannt, sonst schau hier:

      https://de.wikipedia.org/wiki/Antipsychiatrie

      https://www.aerzteblatt.de/archiv/163493/Antipsychiatrie-Bewegung-Eine-Institution-steht-am-Pranger

      • Nestor

        Klar, Kritik an Psychiatrie ist richtig und wichtig, auch heute noch. Aber lies dir die Aufrufe und Mitteilungen des Verbandes doch mal aus der Sicht von jemandem durch, der eigentlich auf psychiatrische Hilfe angewiesen wäre. Es wird hier faktisch richtiges aufgelistet, aber es wird ein ziemlich düsteres, Angst machendes Bild von Psychiatrie gezeichnet. Und es werden halt auch einfach Fakten aufgezählt, ohne die Kausalität zu berücksichtigen. Bringen sich Leute in der Psychiatrie um, weil sie dort sind, oder sind sie vielleicht auch dort, weil sie suizidal sind? Ist es besser sie dann unbehandelt zu lassen, damit sie sich zuhause umbringen? Klar, Transparenz muss hier sein, aber vielleicht sollte man die mit einer durchdachteren Argumentation einfordern?
        Psychopharmaka sind übel, und sollten viel vorsichtiger verschrieben werden, aber sie können auch helfen, trotz übler Nebenwirkungen. Chemo ist auch übelst scheiße, zerstört deinen Körper, kann aber die letzte Rettung sein. Psychopharmaka können dein Leben genauso retten, auch wenn sie dabei Schaden anrichten. Auf die Risiken, auf viel zu schnelle Verschreibung etc kann man auch hinweisen, ohne dass man Leute, die darauf angewiesen wären, direkt komplett abschreckt (und ja, der Link klingt reflektierter, dreht sich zwar nur ums Absetzen, aber immerhin).
        Man kann genau die Kritik, die hier in dem Aufruf geäußert wird, und die ja im Kern legitim und wichtig ist, auch so formulieren, dass man keine generelle Angst vor notwendiger Behandlung schürt. Und da kann man noch so reflektiert in seinen Ausführungen an anderer Stelle sein, wenn man solche Aufrufe veröffentlicht und damit Angst bei Leuten schürt, die dringend Hilfe brauchen, dann trägt man doch eine gewisse Mitschuld, wenn sie sich diese nicht suchen, oder?

  • ina meer

    Hallo Nestor,
    es es ist gut für dich, dass du ein positives Fazit zur Psychiatrie ziehen konntest. Es liegt frei an dir, wo und wie du deine Geschichte teilst.
    Bei `uns` gibt es viele Menschen, die konträre Positionen vertreten, weil sie vor allem auch andere Erfahrungen gemacht haben, und aus ihrem Erleben die Konsequenz gezogen haben, sich gegen Psychiatrie auszusprechen, bzw. sich für Alternativen stark zu machen.
    Bei dem Aufruf, geht es um den Gedenktag Psychiatrie-Toter. Ich empfinde es als nicht richtig, Menschen, die durch die Psychiatrie sterben, in den Kontext von Menschen zu setzten, die durch die Psychiatrie gerettet wurden. Durch die Psychiatrie Gestorbene in irgendeiner Art zu relativieren, liegt `uns` wirklich fern und ist absurd. Vor allem an einem Gedenktag Psychiatrie-Toter.
    Menschen sterben in Psychiatrien und durch psychiatrische Behandlung. Dies ist weitgehendst unsichtbar für die Gesellschaft. Das ist `unser` Anliegen mit diesem Tag bekannt zu machen.
    Wenn du findest, das ist fundamentalistisch, okay.
    Ich finde, dass der Landesverband Psychiatrie-Erfahrener, der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener sowie die Weglaufhaus-Initative-Ruhrgebiet viel Konstruktives erschaffen haben, ob die (Telefon)beratungs-Angebote, die Selbsthilfegruppen, oder die Anlaufstellen in Köln und Bochum mit ihren Krisenzimmern als Alternative zur Psychiatrie.
    Ich erlebe auch nicht, dass in positiven Berichten von Genesungsgeschichten und dem ganzen Pro und Notwendigkeitskram von Psychiatrie, über die Gefahren überhaupt oder ausführlich berichtet wird. Wie armselig, brutal und erniedrigend Psychiatrie sein kann und mit was für möglichen Folgen bleibt ebenfalls unerwähnt. Auch das ist eine Erfahrung, die viele machen. Und auch dies darf und muss genauso geäußert werden können, ohne als Fundametalist*in abgestempelt zu werden.
    Oft wirkt es, wie als ob es nicht möglich ist, negativ über die Psychiatrie zu reden. Weil die Gesellschaft einen Ort der `Hilfe braucht, (um abzugeben, um auch mit gutem Gewissen Menschen da einzuweisen). Selbst innerhalb der Linken Bewegung ist dieses Thema oft schwierig. Wie schön das wäre, ein Ort der Hilfe…
    Leider ist das für viele nicht so. Dass es einen riesengroßen Unterschied im Erleben macht, ob mensch dort freiwillig mitmacht oder dies unter Zwang erleiden muss, steht außer Frage.
    Mir erscheint die Welt durchtränkt von dem „Psychiatrie ist notwendig Gerede“, dass mir es persönlich wichtig ist, dem mit meinen Worten und Tun etwas entgegenzusetzen.
    Du meinst, wir machen Menschen Angst. Angst würde es mir machen, wenn nur positive Sachen geäußert werden dürfen.
    Für mich gibts einen Weg außerhalb der Psychiatrie. Selbsthilfe, Selbstorganisation. Und dafür setze ich mich ein. Deshalb kann ich mich auch komplett gegen die Psychiatrie aussprechen. An eine Reform der Psychiatrie glaub ich nicht. Nenne es Dämonisierung. Ich finde es absurd, dass ich mich nur im Rahmen der Akzeptanz von Psychiatrie bewegen darf. Nicht das Bestehende akzeptieren. Das gilt für vieles, ob bei Knästen, der Polizei und anderen Institutionen.
    Dass du meinst, dass du dich in deinem Lebensrecht angegriffen fühlst, ist heftig und das tut mir sehr leid. Ich weiß nicht, ob du deine Kritik nur auf diesen Flyer beziehst, oder mehr Texte und Positionen des LPE´s kennst. Es ist keineswegs so, dass Medikamente nur verdammt werden. Es gibt durchaus selbst LPE Positionen, dass Medis helfen können, um von etwas runter zu kommen. Aber wie Medis häufig verabreicht werden, ist einfach verrückt und diese Substanzen an sich sind sehr gefährlich, auch lebensgefährlich. Das sagt der Text.
    Das mit Polizeigewalt und Psychiatrie kann ich nicht nachvollziehen. Ein Drittel bis zur Hälfte der von der Polizei Getöteten, befinden sich in psychischen Ausnahmesituationen, haben psychische/psychiatrische Vorgeschichten/Krankheiten. Immer wieder enden Einweisungsversuche mit Gewalt oder auch Tod. Die Polizei hat also sehr wohl sehr viel mit dem Thema zu tun, bzw. die geteilte/verteilte Staatsmacht.
    Auf mehr von deinem Text kann ich gerade nicht eingehen, es wird jetzt zu viel. Das Thema zu Suizidalität z.B. Wenn du Lust auf eine persönliche Auseinandersetzung mal hast, kannst du dich ja melden. Kontaktadresse steht ja da.

  • anaonym

    Die Psychiatrie hat eine enorme Präsenz- Akzeptanz und Machtstellung in Deutschland. Ich begrüße es, dass es dem entgegen stehende Meinung gibt und es ist toll und wichtig dass es Schutzräume und alternativen zur Psychiatrie gibt.
    Kritiker*innen und auch die Leute vom LPE hindern niemanden daran in Psychiatrien zu gehen. Es liegt an den Menschen selbst was sie/er macht.

  • Walter Neuschitzer

    Ich habe auch gelesen, dass einige Psychopharmaka die Neigung zu (Mord und) Selbstmord erhöhen.
    Außerdem kann ich mir vorstellen, dass es ein weiteres Motiv für Selbstmord ist, von der Psychiatrie ruiniert worden zu sein.
    Es ist wirklich Zeit, dass die Psychiatrie dem Strafrecht unterworfen wird.

Kommentare sind geschlossen.