Hannah Deutch (Foto) wird am heutigen Sonntag 100 Jahre alt. Sie lebte bis 1939 in Bochum und konnte als Kind jüdischen Glaubens nach England fliehen. Die Stadt Bochum würdigt sie in einer umfangreichen Mitteilung, der Oberbürgermeister gratuliert ihr in einem Brief und mehrere prominente Persönlichkeiten haben ihr Geburtstagsgrüße geschickt. Ingrid Wölk hat eine kleine Biografie über Hannah Deutch verfasst. An dieser Stelle soll daran erinnert werden, wie schwer sich die Stadt mit der Einladung der jüdischen Bürger:innen getan hat, die den Holocaust überlebt haben und welche besondere Rolle Hannah Deutch dabei eingenommen hat.
Bei ihrem Besuch 1995 erinnerte sie sich: „Ich habe vor fünf oder sechs Jahren Frau Dr. Wojak kennengelernt, und zwar in Chile, wo ich zu Besuch bei meiner Mutter war. Nach Chile fahre ich jedes Jahr und dort treffe ich Frau Dr. Wojak jedes Jahr wieder. […] Ich habe mir erlaubt, eine Bemerkung zu machen, dass ich sehr erstaunt wäre, dass Bochum noch niemanden eingeladen hätte in all den Jahren, es waren über 50 Jahre. Andere Städte, die viel kleiner waren, hatten ihre früheren jüdischen Einwohner bereits eingeladen. Ich habe mir weiter gar nichts dabei gedacht, denn ich wusste, Frau Dr. Wojak war eine Privatperson und sieh mal einer an, es kam dann ein Brief. Es wurde eine Gesellschaft gegründet, Dr. Schneider und viele, viele andere. Man hat mich ernst genommen, und heute sind wir hier.“ Das vollständige Statement von Hannah Deutch.
Bochum war in der Tat die letzte Großstadt in NRW, in die die ehemaligen jüdischen Bürger:innen gemeinsam eingeladen wurden. Die Einladung erfolgte nicht von der Stadt, sondern von dem 1994 gegründeten Verein „Erinnern für die Zukunft“. Die SPD und Oberbürgermeister Stüber standen der Einladung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie befürchteten, dass die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus, die mit dem Besuch verbunden seien, dem Image der Stadt schaden. Es kam zu unschönen Auseinandersetzungen. Die Stadtverwaltung sabotierte die Einladung. Die SPD war nicht bereit, einer angemessene Finanzierung des Besuchs zuzustimmen. Ohrenzeug:innen berichteten, dass ein Gespräch beim Oberbürgermeister mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Historiker Hubert Schneider, der mit Irmtrud Wojak den Verein leitete, so laut wurde, dass es deutlich auf dem Rathausflur zu hören war.
Der Verein setzte schließlich der Stadt ein Ultimatum und drohte seine Arbeit einzustellen und die Gründe öffentlich zu kommunizieren. Das wirkte. Die Stadt erklärte sich bereit, zumindest einen wesentlichen Teil der Kosten zu übernehmen. Der Besuch wurde zu einem großen Erfolg.
Es gab viele Begegnungen und Gespräche. Der Besuch der Gäste in Bochumer Schulen war dabei von besonderer Bedeutung. „Kämpfen sie, damit so etwas nie mehr passiert“, zitierten die Ruhrnachrichten Hannah Deutch beim Besuch des damalige Gymnasiums am Ostring.
Die damals in der Opposition befindlichen Grünen formulierten in einem Dankschreiben an den Verein: „Selten in der Geschichte unserer Stadt ist es einer Initiative gelungen, erfolgreicher gegen den anhaltenden Widerstand der Ratsmehrheit und der Stadtverwaltung so viel Positives zu bewegen. Für die demokratische Kultur in Bochum ist es wichtig, dieses Vorbild zu haben, um Kraft und Mut zu schöpfen, gegen die Betonstrukturen in der Mehrheitsratsfraktion und in der Verwaltung in Bochum anzugehen. Die Bilanz des Besuches der jüdischen EmigrantInnen ist beeindruckend. Das Erinnern für die Zukunft fand real statt. Der Besuch der Gäste in Bochumer Schulen machte dies besonders deutlich. Die Bochumer Medien haben das Ereignis genutzt, um ihren Beitrag für das Erinnern zu leisten. Es ist gelungen, uns mit unserer Geschichte und der daraus abzuleitenden Verantwortung zu konfrontieren.“
Otto Stüber, die SPD und die Stadtverwaltung haben ihre Haltung zum Umgang mit den ehemaligen jüdischen Bochumer Bürger:innen in den folgenden Jahren völlig geändert. Otto Stüber hat in seiner Abschiedsrede im Rat die Versöhnungsgeste der Besucher:innen und die darauf folgenden Aktivitäten zu einem Schwerpunkt im Rückblick auf seine Amtszeit gemacht. Der aktuelle Brief von OB Eiskirch und die Pressemitteilung der Stadt zum 100. Geburtstag sind eine erfreuliche Entwicklung in der Folge von dem, was Hannah Deutch vor mehr als 25 Jahren angeregt hat.
Der Besuch 1995 und die damit verbundenen Auseinandersetzungen sind in dem Buch “Vom Umgang mit der Geschichte” dokumentiert.