Montag 09.05.22, 16:10 Uhr
Gedenkrundgang am 8. Mai 2022, dem Tag der Befreiung, auf dem Friedhof am Freigrafendamm

Redebeitrag von Jennifer Haas, Fritz Bauer Forum/Bibliothek


Herzlichen Dank, dass ich heute, am Tag der Befreiung, einen der Wortbeiträge übernehmen darf. Wir stehen hier auf dem Hauptfriedhof West am Grabfeld 19, einem der zwei Grabfelder, auf dem insgesamt 1720 Zwangsarbeiter*innen verschiedener Nationalitäten bestattet sind. Auf der Ostseite des Friedhofs befindet sich die Baustelle des Fritz Bauer Forums mit Bibliothek und Archiv, für die ich tätig bin. Ich möchte kurz ein paar Worte zum Projekt sagen. Im Fritz Bauer Forum, und vor allem in der physischen und digitalen Bibliothek, ist unser Ziel ebensolche Geschichten, wie die der hier begrabenen Zwangsarbeiter*innen nicht zu vergessen, sondern diese zu thematisieren, aufzuarbeiten und denen eine Stimme zu geben, die sie nicht mehr haben. Aber auch die Stimmen derer zu Wort kommen zu lassen, die ihre Geschichten erzählen können und wollen.

Eine dieser Stimmen, die ihre Geschichte wieder und wieder erzählt hat, ist Esther Bejarano, eine Holocaust-Überlebende, die am 10. Juli 2021, also im vergangenen Jahr, verstorben ist. Einen Teil ihrer Biographie schrieb sie selbst nieder, diese Niederschrift bildet auch die Grundlage der Biographie herausgegeben von Antonella Romeo aus der ich heute zitieren möchte.

Bekannt ist Esther Bejarano den meisten vor allem durch ihre Musik und ihren unermüdlichen Einsatz für das Erinnern. Und ich sage gezielt ‚für das Erinnern‘, statt ‚gegen das Vergessen‘, denn es ist immer leichter sich gegen etwas einzusetzen anstatt für etwas.

Zu Esther Bejaranos musikalischem und kulturellem Erbe möchte ich nicht viel Vorweg nehmen, denn einigen ist sicher bekannt, dass heute Abend noch eine Veranstaltung mit diesem Themenschwerpunkt in der Quartiershalle stattfinden wird.

Es gibt aber trotzdem mehrere Gründe, warum ich heute auch über Esther Bejarano sprechen möchte. Zum einen werden wird an den kommenden zwei Samstagen (14. Und 21.5., 10-13 Uhr) ein Kurs zum Thema „mutig schreiben“ in Kooperation mit der VHS Bochum stattfinden, auf den ich kurz hinweisen möchte. Gemeinsam wollen wir dort die Geschichte Esther Bejaranos kennenlernen, den Mut in ihrem Handeln herausarbeiten und verschriftlichen. Die Geschichte wird Teil einer ganzen Sammlung an unglaublich wichtigen, mutigen Geschichten von unermüdlichem aktiven Handeln, von Widerstand, vom Überleben, von aktivem Aussprechen für das Erinnern und dem Einsatz gegen das Vergessen.

Ein weiterer Grund, ist der Einsatz Esther Bejaranos dafür, dass der heutige Tag, der 8. Mai, der Tag der Befreiung vom NS Regime, ein Feiertag werden muss. Der Tag muss ein Feiertag werden, damit weiter aus der Geschichte gelernt werden kann und sich weiter dafür eingesetzt wird, dass rechtes Gedankengut, Rassismus und Unrecht keinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Daher ist es wichtig, die Geschichten der Überlebenden präsent zu halten. Esther Bejarano selbst schreibt in ihrer Biographie, dass bei einem morgendlichen Appel in Auschwitz bekannt geworden war, dass sich Häftlinge mit ‚arischem Blut‘ melden können, um in ein Lager zu kommen, dass kein Vernichtungslager war. Sie selbst war nach dem ‚Rassegesetz‘ zu ¼ ‚arisch‘. Sie schreibt:

„Einerseits wollte ich mit meinen Kameradinnen zusammenbleiben. Andererseits würde ich vielleicht die einzige von meinen Freundinnen sein, die Auschwitz schon bald verlassen könnte. Nach reichlicher Überlegung kamen wir zum Entschluss, dass ich mich erst mal melde. Meine Freundinnen meinten, ich hätte geradezu die Pflicht zu versuchen, aus Auschwitz rauszukommen, damit ich später den Menschen erzählen könnte, was für schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden.“1

An dieser Stelle traf sie eine Entscheidung für das Erinnern. Eine Entscheidung, die sie immer wieder treffen musste.

Zunächst arbeite sie ab ca. 1940 oder 1941 als Zwangsarbeiterin im Landwerk Neuendorf und wurde im April 1943 nach Auschwitz deportiert. Sie wurde für das Mädchenorchester in Auschwitz vorgeschlagen, spielte ohne Vorkenntnisse Akkordeon und ermöglichte sich so eine stückweit bessere Überlebenschance im Konzentrationslager. Im November 1943 wurde sie, wie gerade schon zitiert, verlegt ins Konzentrationslager Ravensbrück. Sie nahm an einem Todesmarsch teil bis es ihr gelang mit Freundinnen zu fliehen.

Ab 1960 lebte sie in Hamburg, gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern. Sie eröffnete neun Jahre später eine Boutique, beginnt mit jungen Leuten über Politik zu sprechen, aber nicht über ihre Vergangenheit. Sie sagt:

„Durch diese jungen Leute aber, die zum Teil ganz gut informiert waren über die Zeit von 1933 bis 1945, wurde ich wieder wachgerüttelt. Ich fand, dass ich meine Erlebnisse den jungen Leuten vermitteln sollte.“2

Dieser Satz aus der Biographie ist besonders bei mir hängen geblieben und zeigt auf, wie wichtig es ist sich zu Erinnern. Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Geschichten wie die von Esther Bejarano weiter gehört werden und präsent bleiben. Wir müssen aus ihnen lernen und unser eigenes Handeln an ihnen orientieren, uns selbst einsetzen für das Erinnern, für den Widerstand und für das Überleben.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.


1 Esther Bejarano. Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Herausgegeben von Antonella Romeo, LAIKA-Verlag, 2019, S. 77-78.

2 Esther Bejarano. Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts. Herausgegeben von Antonella Romeo, LAIKA-Verlag, 2019, S. 128.