Sonntag 19.12.21, 17:30 Uhr

Ein Beitrag zur Durchseuchung 1


Mehr als 1.000 Menschen protestierten gestern vor dem Schauspielhaus gegen die aktuellen Coronamaßnahmen. Das Theater empfingt die Besucher:innen mit einer freundlichen Frage: Wie kommt’s? Die Antwort: Corona ist nur eine leichte Grippe. Man stand daher auch sorglos eng gedrängt ohne Maske beieinander. Falls das Virus doch etwas gefährlicher ist, wurde damit die Durchseuchung der Gesellschaft freundlich beschleunigt.

Auf der anderen Seite der Oskar Hoffmann Straße finden sich ca. 100 Gegendemonstrat:innen ein und melden ihren Protest als Spontan-Demo an. Die Polizei – mit einer Hundertschaft schon seit Stunden präsent – ist erst einmal beruhigt. Um das Schauspielhaus kreisen noch etliche Parkplatz suchende Autofahrer:innen aus dem gesamten Ruhrgebiet, die den ersten Teil ihres Aufmarsches – so nennen sie es – verpassen. Auf dem Theatervorplatz wird von Diktatur und Widerstand geredet. Eine kopfschüttelnde alte Dame fragt eine Gruppe von „Widerstandskämpfern“: Ist Querdenken, wenn man keinen Schimmer davon hat, wie in Diktaturen mit Systemgegnern umgegangen wird? Eine Gruppe von Mitgliedern der Partei Die Rechte aus Dortmund reiht sich in die Widerstandsfront ein. Auch ein paar NPD Gesichter, die lange nicht gesehen wurden tauchen auf. Neu dabei: Die Parteifahnen schwenkenden Mitglieder der Partei „Die Basis“.
Der Aufmarsch startet mit einer anachronistischen Trommler:innengruppe an der Spitze über die Oskar Hoffmann Straße zur Universitätsstraße. Opa Hoppenstedt hätte seine helle Freude. Die Demonstration kann nicht durch den Innenstadtkern führen. Hier ist Maskentragen vorgeschrieben. Einige Anwohner:innen der Demo-Route sind dem Aufruf der Antifa gefolgt: Sie stehen mit Plakaten und Transparenten vor ihren Häusern und protestieren gegen die Corona-Leugner:innen. Die Polizei greift einige Male ein, als jüngere Leute versuchen, sich dem Demozug entgegen zu stellen.


Am Nordring auf Höhe der Bergstraße gibt es eine kleine Straßenblockade. Cops sperren die Gegenfahrbahn und führen den Aufmarsch an der Blockade vorbei. Die Blockade löst sich auf. Die Teilnehmer:innen werden eingekesselt. Drei Mitglieder der Bochumer Initiative Polizeibeobachtung, die zur Beobachtung herbei eilten, wurden gleich mit eingekesselt. Die Personalien der Festgesetzten werden erfasst und Platzverweise für den Innenstadtkern ausgesprochen. Eine eifrige Polizistin fotografiert das Erkennungsschild, das die Polizeibeobachter:innen tragen. Von der Gruppe sei schließlich Gewalt ausgegangen.
Der Aufmarsch zieht weiter zur Abschlusskundgebung vor dem Rathaus. Es werden keine Masken getragen. Die Abstandsvorschriften der Diktatur werden nicht eingehalten. Wenn die Verantwortlichen keine leichte Grippe kriegen, wollen sie schon am Montag erneut aufmarschieren.


Ein Gedanke zu “Ein Beitrag zur Durchseuchung

  • Angsthase

    Die WAZ liegt mit über 2000 Teilnehmenden sicherlich näher an der erschreckenden Realität des vergangenen Samstags. Klar ist für Bochum, dass Nazis, auch wenn NPD und DIE RECHTE-Funktionäre vor Ort waren, hier in Bochum wenig Einfluss auch das wilde Konglomerat an Verschwörungsgläubigen und coronaleugenden bzw. verharmlosenden Menschen haben. Aber das macht diese wilde Mischung um so weniger greifbar. Die Musik vom Band wechselte von „Bella Ciao“ zu „O du Fröhliche“ und von deutschen Schlagern zu Protestsongs mit Fremdschämalarm.

    Für alle war etwas dabei und alle finden ihre kleinen Nischen zum Andocken. Und so laufen Esoterikfreaks neben Verschwörungsgläubigen und der rechten „Freie Linke“ und man ist so frei und offen in alle Richtungen und lässt die Nazis Nazis sein, solange sie nicht mit Hakenkreuzfahnen dort auflaufen. Alle gemeinsam gegen „die Diktatur“ und Diktatur fängt da an, wo man in der Schlange am Glühweinstand oder an der Supermarktkasse eine Maske tragen muss. Die Selbstermächtigungserfahrung auf den Querdenkerdemos verleit Flügel und sie haben ja mit der Bochumer Polizei gerade wieder die Erfahrung gemacht, dass für sie Versammlungsauflagen, die z.B. linken Demos auferlegt werden, nicht gelten.
    Die Antifa fokussiert auf die Nazis in der bunten Mischung und den antisemitischen Charakter von Verschwörungserzählungen und die Cops auf die Antifa und anderen linken Protest. Gewohnte Muster eben. Das ist erst einmal verständlich, aber brandgefährlich. Haben wir vor Jahren die querfrontlerischen „Montagsmahnwachen“ noch als vorübergehenden Spuk abgetan, zitieren heute Altlinke von Querfrontseiten wie „Nachdenkseiten“, „Multipolar“ oder „Rubikon“ und unterschreiben gemeinsam mit Funktionär*innen von „Die Basis“ und „Querdenken“ den neuen „Krefelder Appell“ und freuen sich über die Berichterstattung auf „Russia Today“.

    Wir, ich bezeichne mich mal als undogmatischen Linken, haben weder eine Idee noch ein Konzept mit diesen gesellschaftlichen Veränderungen umzugehen. Wir sind segmentiert. Die einen machen Klimapolitik, andere Flüchtlingspolitik, die Antifas, queerfeministische Gruppen etc. haben zwar punktuell Überschneidungen, aber keine gemeinsame Vision oder Praxis. Unabhängig von der aktuellen Fixiertheit auf die Coronamaßnahmen entwickelt sich ein rechter Mainstream unter dem Deckmäntelchen von Freiheit und Toleranz, dass sich schon das nächste Thema ausgesucht hat: Die kommenden Veränderungen durch die Klimakrise.

    Rechter Mainstream braucht keine rechte Rhetorik mehr. Er adaptiert linke Parolen nicht aus strategischen Gründen oder aus Mangel an Kreativität wie die Faschos, sondern die Mitlaufenden glauben ihre Parolen tatsächlich. „Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut“ (Parole vom Samstag).

    Ich bin der Letzte, der sagt, „der Staat“ muss dem einen Riegel vorschieben, aber ich ertappe mich bei dem Gedanken und das macht mit Angst.

    So weit, so hilflos.

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