Samstag 14.08.21, 14:45 Uhr
Grundsteinlegung für das Fritz Bauer Forum am 11. 8. 2021 in Bochum

Irmtrud Wojak: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“

Artikel 1 des Grundgesetzes als Grundstein des Fritz Bauer Forums und der interaktiven Fritz Bauer Bibliothek in Bochum



Sehr geehrte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde,

von dem Sozialdemokraten Dr. Fritz Bauer stammt die Feststellung, dass ein Staat, der die Würde des Menschen antastet und sie nicht schützt, ein Unrechtsstaat ist.

Politische Opposition und Widerstand, das waren bereits die Hauptthemen des jungen Fritz Bauer nach dem Ersten Weltkrieg und während seiner Studienzeit, als er das Aufkommen der NS-Bewegung in München miterlebte. Als angehender Jurist und bald darauf jüngster Amtsrichter Deutschlands setzte Dr. Bauer sich in seiner Geburtsstadt Stuttgart aktiv für den Erhalt der Demokratie ein. Er wurde Führer der Republikschutzorganisation Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und redete fast jedes Wochenende auf einer Versammlung. Sein Engagement führte dazu, dass die Nazi-Schergen ihn 1933 sofort ins KZ warfen. Bauer entkam 1936 ins dänische, im Oktober 1943 ins schwedische Exil. Kurz nach der Verabschiedung des Grundgesetzes kehrte er 1949 nach Deutschland zurück.

Der Entschluss dazu fiel dem Remigranten nicht leicht. Nach Jahren bitteren Exils setzte Bauer auf das Prinzip Hoffnung und die junge Generation. Ihr wollte der politische Jurist etwas von dem Widerstandsgeist der jungen Oppositionellen in der Weimarer Republik vermitteln. Vom Kampf um des Menschen Rechte, wie er sein Leben nach den tiefen Einschnitten und Neuanfängen jetzt bezeichnete.

Wieder führte Dr. Bauers Weg direkt in die politische Opposition. Noch im Exil hatte er sein Buch Kriegsverbrecher vor Gericht veröffentlicht, das bis heute keinen deutschen Verlag gefunden hat. Darin erklärte Bauer, die Deutschen bräuchten eine Lektion im geltenden Völkerrecht. Mit seinem Kampf gegen die Straflosigkeit der NS-Verbrechen – Bauer nannte dies Gerichtstag halten über uns selbst – machte er sich in der konservativen Ära Adenauer erneut angreifbar.

Die fast reibungslose Integration der Nationalsozialisten in das System der Bundesrepublik wird oft als die größte Leistung der Adenauer-Zeit bezeichnet. Für Fritz Bauer war genau dies die schwerste politische Hypothek für die junge Demokratie und den Aufbau des Rechtsstaats. Zeit seines Lebens kämpfte Bauer dagegen. Er brachte den Deportationsspezialisten Eichmann und die Auschwitz-Täter vor Gericht, die NS-Justiz und die NS-Medizin samt der NS-Euthanasie, die Verbrechen der Wehrmacht und der Polizei im NS-Staat. Der Generalstaatsanwalt wollte auch Adenauers Kanzleramtschef Dr. Hans Globke vor Gericht bringen, dessen Name als Kommentator der Nürnberger Rassengesetze und Verantwortlicher für die antisemitische Namensänderungsverordnung des NS-Regimes für die Kontinuität der NS-Eliten in der jungen Bundesrepublik steht – vergeblich.

Robert M. W. Kempner, Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, brachte es auf den Punkt, als er nach dem überraschenden Tod des hessischen Anklägers 1968 erklärte: „Fritz Bauer war, nach dem Tod Bundeskanzler Adenauers, der größte Botschafter, den die Bundesrepublik hatte.“

Nach dem Tod Adenauers…, denn dieser hat Bauers Bemühungen um Aufklärung und Bestrafung der NS-Verbrechen nie mit einem Wort positiv erwähnt. Tatsächlich wurde dem Juristen Zeit seines Lebens nur eine Auszeichnung zuteil. Ausgerechnet die nach dem bayerischen Volksdichter und Antisemiten benannte Ludwig-Thoma-Medaille für Zivilcourage der Stadt München – am 30. April 1968. Keine Ehrung, die Aufsehen erregt, die Glanz oder Würde verliehen hätte, lautete ein Kommentar. Bauer hat davon noch erfahren, auf den Tag genau zwei Monate später war er tot. Die genaue Todesursache ließ sich nicht mehr feststellen, es wurde keine große gerichtsmedizinische Untersuchung angeordnet.

Sein Leben lang war er in der politischen Opposition und im Widerstand gewesen, oft unter größten Risiken und immer unter Inkaufnahme von Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen. Nach dem plötzlichen Tod Bauers fragten sich seine Freunde, ob sie ihm genügend zur Seite gestanden hatten. Am deutlichsten sprach dies wiederum Robert M. W. Kempner in seiner Gedenkrede aus, die er im Namen derjenigen verstanden wissen wollte, „die selbst nicht mehr sprechen können“, der Zehntausenden Opfer und Überlebenden, denen der Generalstaatsanwalt eine Stimme gab. „Haben wir uns eigentlich genug um Fritz Bauer „gekümmert“, fragte Kempner. Und er bedauerte für seine Person, den „gemeinen politischen Rufmördern leider nicht rechts und links in die Fresse geschlagen“ zu haben.

Lassen Sie mich damit zur Aufgabenstellung des Fritz Bauer Forums und unserer engagierten Fritz Bauer Bibliothek kommen. Fritz Bauer war die Stimme des Widerstands der Überlebenden. Unsere Aufgabe heute ist es, dass diese Stimme lebendig bleibt. Dass die mutige, oft aufopferungsvolle Geschichte vom Kampf um des Menschen Rechte erforscht, dokumentiert und weitererzählt wird.

Ich denke dabei an die Geschichten der Geflüchteten auf dem Mittelmeer oder in den Lagern in Griechenland, in Syrien, in Libyen, in der Türkei, in den afrikanischen Staaten oder auch an den Grenzen der USA. Die angeborenen, unveräußerlichen Menschenrechte zu verweigern – denn das ist das Ignorieren täglicher Bedrängnis durch Mangel und Not, vor denen sie fliehen müssen – ist eine Verletzung der Menschenrechte.

Ich denke an die Rechte von Menschen, die weniger befähigt sind als wir. Die zum Beispiel wegen einer körperlichen Behinderung oder wegen ihres Alters oder wegen einer Krankheit um ihre Rechte bangen. Mit ihnen setzen wir uns für eine Anerkennung ihrer Rechte ein, nicht zuletzt für eine „Medizin mit Menschlichkeit“.

Ich denke an die Menschenrechte der Schwächsten in unseren Gesellschaften, die von geringen Bildungschancen, Armut und Obdachlosigkeit Betroffenen, die durch das soziale Netz gefallen sind. Ebenso an die Rechte von Gefangenen oder von Menschen, die straffällig wurden, und denen wir, wie Fritz Bauer dies tat, die Hand reichen, weil dies ein Gebot der Menschenwürde ist.

Ich denke an diejenigen, die für die Anerkennung der Vielfalt in unserer Gesellschaft kämpfen. Mit unserer interaktiven Fritz Bauer Bibliothek bestärken wir die Stimmen derjenigen, die gegenüber dem Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe nicht schweigen, die einer Diskriminierung von Minderheiten aufgrund von Geschlecht, von Religion, Herkunft oder Hautfarbe aktiv entgegentreten.

Lassen Sie mich diese Aufgabenstellung mit den Worten Fritz Bauers zusammenfassen: Der Widerstand, der im Unrechtsstaat notwendig ist, „braucht nicht erst zu beginnen, wenn der Unrechtsstaat etabliert ist.“ Oder nachdrücklicher noch: „Der große Widerstand im Unrechtsstaat bleibt nur möglich, wenn der kleine Widerstand gegen das Unrecht im staatlichen Alltag geübt und wie eine kostbare Pflanze gehegt und gepflegt wird.“

Nicht allein intellektuelle Kritik, sondern die Praxis der Menschenrechte einzuüben, damit der kleine Widerstand im Alltag lebendig bleibt, ist die Aufgabe des Fritz Bauer Forums.

Vorbilder hierfür gibt es zahlreiche, Sie finden einige bereits in unserer Fritz Bauer Bibliothek. Die Geschichte vom Kampf eines Franco Basaglia für die Öffnung von Heilanstalten in Italien, von einer Gabriela Brimmer für die Rechte von Behinderten in Mexiko, vom Kampf eines Jura Soyfer gegen den Austrofaschismus und für die Moral der Häftlinge im KZ Dachau, von dem brasilianischen Fußballspieler Sócrates für die Demokratisierung seines Landes nach der Militärdiktatur oder auch vom Kampf der Schriftstellerin Birgit Lohmeyer gegenüber dem grassierenden Rechtsextremismus in einem Dorf voller Neonazis – hier in unserem Land. Es sind heute einige Schüler und Schülerinnen der AG Menschenrechte des Gymnasiums Eickel hier anwesend, die weitere, teilweise noch weitgehend unbekannte Geschichten recherchiert haben, die in Kürze publiziert werden.

Wobei es hier nicht darum geht, eine Pflicht zum aktiven Widerstand statuieren zu wollen. Das meinte Fritz Bauer auch nicht. Er sagte, es geht „um den Ungehorsam gegen staatliche Gesetze und Befehle (…), die verfassungswidrig sind, also etwa die Menschenwürde oder ein Menschenrecht verletzen oder einen Angriffskrieg betreffen. Es gibt nur eine Pflicht zum passiven Widerstand, nur eine Pflicht, das Böse zu unterlassen, (…) nicht Komplize des Unrechts zu werden.“

Zu keiner Zeit und in keinem Staat ist diese Pflicht überholt. Unsere Aufgabe ist und bleibt, wachsam zu sein und den Widerstand einzuüben, der nicht aus der reinen Vernunft oder Gesetzesparagrafen kommt, sondern aus dem mitfühlenden Herzen.

Ich lade Sie daher heute ein: Beteiligen Sie sich am Aufbau der Fritz Bauer Bibliothek. Spenden Sie, suchen Sie mit uns weitere Förderungen oder tragen Sie schreibend und filmend dazu bei, dass die Geschichten des Widerstands und Überlebens lebendig bleiben. Sie handeln von großem Mut, von Vertrauen und Freude. Trotz Niederlagen und schmerzhaften Verlusten erzählen sie von der Liebe zum Leben. Von allem, was eine Gesellschaft in Vielfalt benötigt und wofür es sich zu leben und zu kämpfen lohnt.

Lassen Sie uns diesen Widerstand gemeinsam im Fritz Bauer Forum erforschen: den Widerstand, der nationale Grenzen überschreitet, jedem Menschen zusteht und von jedem und jeder ausgeübt werden kann. Dessen Geschichte sich mit der Geschichte der Menschenrechte deckt, der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen.