Dienstag 20.07.21, 07:53 Uhr
Erinnerung an den staatlichen Terror vor 20 Jahren

Juli 2001 in Genua


Vor 20 Jahren wurde der 23-jährige Carlo Giuliani bei einer Protestdemo gegen den „Weltwirtschaftsgipfel“ in Genua von der Polizei erschossen. Heiko Koch erinnert an die Geschehnisse, führte ein Interview mit der Mutter (Foto) vom Carlo Giuliani und rezensiert den Comic „Carlo vive:

Um die Jahrtausendwende war eine Zeit der großen transnationalen Proteste gegen die neoliberale Ausbeutung von Mensch und Natur. Bei dem WTO-Treffen in Seattle 1999, dem IWF-Treffen in Prag 2000, dem EU-Gipfel in Göteborg und dem G8-Treffen in Genova im Jahr 2000 kam es zu massenhaften Demonstrationen gegen die herrschende Wirtschaftspolitik.

Die Demonstrant*innen kamen weltweit aus den unterschiedlichsten feministischen, anti-rassistischen, ökologischen, pazifistischen, antikapitalistischen Bewegungen, Strömungen und Basisorganisationen. In der Öffentlichkeit wurden sie zusammengefasst als „Globalisierungsgegner“ bezeichnet. Neben Kongressen, Konzerten, Aktionen und Happenings, organisierten sie an diesen Tagen Protestdemonstrationen gegen die „Herrschenden der Welt“ und deren Politik. Protest­demonstrationen, die oftmals mit brutaler Gewalt der Sicherheitsorgane attackiert wurden und sich zu großen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Sicherheitsorganen entwickelten.

Die Ereignisse anlässlich des G8-Treffens in Genova 2001
Besonders im Vorfeld des G8-Treffens in der ligurischen Hafenstadt Genova im Juli 2001 hatte die damalige italienische Regierung unter Silvio Berlusconi ein Bürgerkriegsszenario an die Wand gemalt, auf das sie sich im vollen Umfang vorbereitete und so auch umsetzte. Bei den Protesten am 20. und 21. Juli veranstalteten Carabinieri-Einheiten wie in einer südamerikanischen Militärdiktatur Menschenjagden in Genuas Straßen, knüppelten die Protestierenden blutig nieder und verletzten hunderte Menschen schwer. Über 1 Tonne Tränengas wurde auf die Demonstrierenden verschossen, Panzerwagen fuhren mit hohen Tempo in Menschenmengen und mit scharfen Waffen schossen die Sicherheitsbehörden auf sich wehrende Demonstrant*innen. Bei einer dieser Situationen wurde der 23jährige Carlo Giuliani in den Kopf geschossen.

Zu diesem zweitägigen staatlichen Bürgerkriegsszenario gehörte auch die polizeiliche Maßnahme, die später in den Medien als die „chilenische Nacht“ betitelt wurde. In der Nacht vom 21. auf den 22. Juli übernachteten rund 150 Protestierende in der Diaz-Schule im Stadtteil Albaro, als fast 500 Polizisten und Carabinieri in das Gebäude eindrangen und sie derart zusammenschlugen, dass 61 Verletzte ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten und eine Person im Koma lag. Weitere 93 „leicht“ verletzte Demonstrant*innen wurden festgenommen, in die Bolzaneto-Kaserne gebracht und dort unter völliger Missachtung der Rechtsstaatlichkeit geschlagen, misshandelt und gefoltert. Dabei ließen diverse Beamte ihrer Gesinnung mit faschistischen Sprüchen freien Lauf. Dieses Ereignis gilt von der Nachkriegszeit bis heute als die schwerwiegendste Verletzung der Menschenrechte in einem demokratischen Land.
(Am Rande sei hier nur erwähnt, dass die allerwenigsten der Beamten, die für Gewalt und Folter und deren Anordnung in Genova verantwortlich waren, dafür von der Justiz belangt wurden. Die Meisten von ihnen wurden in den Folgejahren befördert. Ganz im Gegensatz zu vielen Demonstrant*innen, die unter willkürlichen Konstrukten zu hohen Freiheitsstrafen verurteilt wurden.)

Genova 2021 – Interview mit Haidi Giuliani
Der Comic „Carlo vive“ – vom Leben und Tod Carlo Giulianis

Genova 2001 – Berichte und Dokumente auf bo-alternativ im Juli 2011

WDR 3 Hörspiel: Genua 01 – Testimonials der Gewalteskalation beim G8-Gipfel