Norbert Hermann erklärt für Bochum-Prekär: »Gestern haben sie entschieden. Einstimmig. Auch der Vorsitzende des 1. Senates, Vizepräsident Stephan Harbarth, der noch im Juni 2018 als CDU-Bundestagsabgeordneter für die Beibehaltung der Sanktionen gestimmt hatte. Dem Vernehmen nach hatten die acht Richter*innen 10 Monate schwer zu brüten, für ihre extrem unterschiedlichen Meinungen einen Kompromiss zu finden. Der sieht nun so aus: Eine Kürzung des Existenzminimums um 30% auf das Unerlässliche (70%) ist für drei Monate immer verfassungskonform. Kürzungen um 60% können in Zukunft möglich sein, wenn die Gesetzgebung tragfähige Erkenntnisse vorweisen, wonach 60% Sanktionen zielführend sein könnten. Der Erhalt der Wohnung darf nicht gefährdet werden. im Fall außergewöhnlicher Härten ist die Sanktion zwingend zu mindern, „normale“ Härten müssen ausgestanden werden. Das sind Positionen, die auch schon in der Vergangenheit gerichtlich durchgesetzt werden konnten, denn „Verhungern lassen ist verboten“, Obdachlosigkeit hervorzurufen auch. Dazu muss mensch aber imstande sein, seine/ihre elementaren Rechte zu kennen und durchzusetzen. Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts profitieren also vor allem jene Menschen, die Hilfe am Nötigsten haben und am schlechtesten mit dem Hartz IV-Regime und den rechtlichen Möglichkeiten zurechtkommen. Das ist gut so.
Rechtsgrundlage ist die verfassungsrechtlich garantierte Sicherung des Existenzminimums, die sich aus Artikel 1 (Würde des Menschen) und dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 ergibt. Beschneidet sich wer selbst in seiner/ihrer Würde und „kriecht zu Kreuze“, so kann die Dauer der Sanktion abgekürzt werden. Mehr war nicht zu erwarten, denn, so Prof. Christoph Butterwegge, „Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“. Mit Hilfe der Sanktionen sollen Menschen in Jobs gedrängt werden, die es gar nicht gibt. Noch-Beschäftigte nehmen schlechte Entlohnung und verschlechterte Arbeitsbedingungen hin aus Angst in Hartz IV abzustürzen. Verlieren sie ihren Job treten sie eine neue Arbeitsstelle an weit unter ihrer Qualifikation und verdrängen so die Kolleg*innen, für die das gerade passgenau wäre. Was nottut ist eine grundsätzliche Novellierung der Arbeitsmarktpolitik, mit allgemeiner Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich wo ein Überhang an Arbeitskräften besteht. Damit ließe sich auch die weit verbreitete Angst vor Arbeitsplatzverlust durch die Digitalisierung und konjunkturelle und klimapolitische Veränderungen mildern.
Im Einklang mit dem Bündnis „AufRecht bestehen“ und dem Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum fordern wir, dass an die Stelle der geltenden Sanktionsregelungen ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung von Hartz IV-Abhängigen treten muss. Wir teilen auch die Meinung des Herner Sozialforums, wonach das Urteil zwar ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber gleichzeitig auch erschreckend. Ein Existenzminimum kann man nicht kürzen.«
Die PM des BVerfG:
Das komplette Urteil:
Christoph Butterwegge: „Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“
WAZ HER 19-11-05: Urteil zu Sanktionen geht Hernern nicht weit genug
PM „AufRecht bestehen“, erstellt von der KOS und Tacheles_
Bündnis „AufRecht bestehen“
Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum
Urteil: Hartz-IV-Sanktionen sind zum Teil verfassungswidrig
(Prof. Dr. Stefan Sell)
Phyrrussieg im Kampf für die Abschaffung von Hartz IV und für die Verteidigung des Arbeitsrechts
Ich möchte die interessierten Lesenden auf den Kommentar des bekannten Arbeitsrechtlers und Rechtsanwalt Dr. Rolf Geffken hinweisen:
https://www.drgeffken.de/nc/aktuelle-bereiche/inhalt-aktuelle-infos/aktuelleinfos/article/hartz-iv-sanktionen-nur-teilweise-verfassungswidrig/
(via http://www.labournet.de/newsletter/ von heute)
BVerfG: Verantwortliche und Neoliberale Politiker*innen feiern – Kleine Hilfe um Illusionen in diesen Staat und sein Rechtsystem zu verlieren
„Verantwortliche und Neoliberale Politiker*innen feiern das vom #Bundesverfassungsgericht gesprochene Urteil zu #HartzIV-#Sanktionen. #Klassenkampfvonoben“ (https://twitter.com/BastaBerlin/status/1192407259864850432)
Jetzt haben sich ja viele geäussert. Jubel bei Funktionär*innen, Tenor: „Dass es das BVerfG brauchte, um linke Forderungen durchzusetzen“. Warum diese illusorischen Schnellschüsse?
Dabei ist das Urteil eine Legitimierung der Sanktionspraxis, selbst 100% Sanktion ist möglich:
„Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.“ (Rn. 209 – https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2019/11/ls20191105_1bvl000716.html).
Weitere Kommentare:
Katrin Göring-Eckardt (Grüne), „die Frau, die die Agenda 2010 in Zeiten von Rot-Grün nicht nur als „mutig“ und „notwendig für das Gemeinwohl“ bezeichnete, sondern darüber hinaus als „Frühling der Erneuerung“, hat nun das Urteil des Bundesverfassungsgericht begrüßt, das die Hartz-IV-Sanktionen größtenteils als verfassungswidrig einstufte.
Mediziner wollen nun zugunsten von Menschen mit Bluthochdruck herausfinden, wie es Göring-Eckardt gelang, all diese Aussagen zu tätigen, ohne dabei rot zu werden.“
https://www.der-postillon.com/2019/11/goering-eckardt.html
T. Riegel: Hartz-IV-Urteil: Angriffe auf das Existenzminimum sind in Ordnung
https://www.nachdenkseiten.de/?p=56181 (mit Quellen und Links)
„Das Urteil ist nicht nur kein partieller Sieg für die Menschenwürde, als die es hier teils akzeptiert wird. Es ist eine entsetzliche Niederlage für den Sozialstaat, für das Solidarprinzip, für unsere Gesellschaft.“ (dort zustimmend zitierte Twitter-Meldung).
Peter Nowak: Hartz IV-Sanktionen – der strafende Staat bleibt erhalten
https://www.heise.de/tp/features/Hartz-IV-Sanktionen-der-strafende-Staat-bleibt-erhalten-4580181.html
LIZ: Urteil zu Hartz-IV-Sanktionen: Das Kürzen geht weiter
https://www.l-iz.de/politik/brennpunkt/2019/11/Urteil-zu-Hartz-IV-Sanktionen-Das-Kuerzen-geht-weiter-302744
Butterwegge: „Eine Ohrfeige für Schröder und Clement“
https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/verfassungsgericht-zu-hartz-sanktionen-christoph-butterwegge-im-interview-a-1295048.html
Es bleibt ein Hauch von Obrigkeitsstaat
https://www.fr.de/meinung/hartz-4-sanktionen-eine-krachende-lektion-menschenwuerde-politik-13195080.html
C-Krieg: Die Existenzbedrohung bleibt
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1128214.hartz-iv-sanktionen-die-existenzbedrohung-bleibt.html (zu Besuch bei BASTA)
Herner Sozialforum: Hier nochmals der Beitrag aus der WAZ Herne mit der Stellungnahme des dortigen Sozialforums – ohne Bezahlschranke:
https://www.wr.de/staedte/herne-wanne-eickel/hartz-iv-urteil-zu-sanktionen-geht-hernern-nicht-weit-genug-id227561013.html