Mittwoch 06.11.19, 07:12 Uhr

Sanktionen im Grunde verfassungskonform 2


Norbert Hermann erklärt für Bochum-Prekär: »Gestern haben sie entschieden. Einstimmig. Auch der Vorsitzende des 1. Senates, Vizepräsident Stephan Harbarth, der noch im Juni 2018 als CDU-Bundestagsabgeordneter für die Beibehaltung der Sanktionen gestimmt hatte. Dem Vernehmen nach hatten die acht Richter*innen 10 Monate schwer zu brüten, für ihre extrem unterschiedlichen Meinungen einen Kompromiss zu finden. Der sieht nun so aus: Eine Kürzung des Existenzminimums um 30% auf das Unerlässliche (70%) ist für drei Monate immer verfassungskonform. Kürzungen um 60% können in Zukunft möglich sein, wenn die Gesetzgebung tragfähige Erkenntnisse vorweisen, wonach 60% Sanktionen zielführend sein könnten. Der Erhalt der Wohnung darf nicht gefährdet werden. im Fall außergewöhnlicher Härten ist die Sanktion zwingend zu mindern, „normale“ Härten müssen ausgestanden werden. Das sind Positionen, die auch schon in der Vergangenheit gerichtlich durchgesetzt werden konnten, denn „Verhungern lassen ist verboten“, Obdachlosigkeit hervorzurufen auch. Dazu muss mensch aber imstande sein, seine/ihre elementaren Rechte zu kennen und durchzusetzen. Von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts profitieren also vor allem jene Menschen, die Hilfe am Nötigsten haben und am schlechtesten mit dem Hartz IV-Regime und den rechtlichen Möglichkeiten zurechtkommen. Das ist gut so.

Rechtsgrundlage ist die verfassungsrechtlich garantierte Sicherung des Existenzminimums, die sich aus Artikel 1 (Würde des Menschen) und dem Sozialstaatsgebot des Art. 20 ergibt. Beschneidet sich wer selbst in seiner/ihrer Würde und „kriecht zu Kreuze“, so kann die Dauer der Sanktion abgekürzt werden. Mehr war nicht zu erwarten, denn, so Prof. Christoph Butterwegge, „Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“. Mit Hilfe der Sanktionen sollen Menschen in Jobs gedrängt werden, die es gar nicht gibt. Noch-Beschäftigte nehmen schlechte Entlohnung und verschlechterte Arbeitsbedingungen hin aus Angst in Hartz IV abzustürzen. Verlieren sie ihren Job treten sie eine neue Arbeitsstelle an weit unter ihrer Qualifikation und verdrängen so die Kolleg*innen, für die das gerade passgenau wäre. Was nottut ist eine grundsätzliche Novellierung der Arbeitsmarktpolitik, mit allgemeiner Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich wo ein Überhang an Arbeitskräften besteht. Damit ließe sich auch die weit verbreitete Angst vor Arbeitsplatzverlust durch die Digitalisierung und konjunkturelle und klimapolitische Veränderungen mildern.

Im Einklang mit dem Bündnis „AufRecht bestehen“ und dem Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum fordern wir, dass an die Stelle der geltenden Sanktionsregelungen ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung von Hartz IV-Abhängigen treten muss. Wir teilen auch die Meinung des Herner Sozialforums, wonach das Urteil zwar ein Schritt in die richtige Richtung ist, aber gleichzeitig auch erschreckend. Ein Existenzminimum kann man nicht kürzen.«

Die PM des BVerfG:
Das komplette Urteil:
Christoph Butterwegge: „Ohne Sanktionen kollabiert das Hartz-IV-System“
WAZ HER 19-11-05: Urteil zu Sanktionen geht Hernern nicht weit genug
PM „AufRecht bestehen“, erstellt von der KOS und Tacheles_
Bündnis „AufRecht bestehen“
Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum
Urteil: Hartz-IV-Sanktionen sind zum Teil verfassungswidrig
(Prof. Dr. Stefan Sell)


2 Gedanken zu “Sanktionen im Grunde verfassungskonform

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