Bochum Prekär schreibt: »Es gibt sie noch, die solidarischen und ethisch verantwortungsvoll denkenden Kollegen und Kolleginnen im Jobcenter und bei der Arbeitsagentur. Trotzdem waren wir überrascht und erfreut zugleich, als im Laufe des vergangenen Jahres gleich mehrere Erwerbsloseninitiativen auf eine geheime Arbeitshilfe „Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ der Bundesagentur für Arbeit aufmerksam gemacht wurden, in dem in unsäglicher Weise gehetzt wird gegen zugewanderte Menschen vor allem aus Südosteuropa. Diese Anleitung zur Verfolgung und zum Verhungern lassen ist jetzt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, am Montag gab es eine Pressekonferenz (1) dazu. Das Papier (2) erinnert fatal an die ersten Jahre mit Hartz IV, als Minister Clement 2006 von einer „Missbrauchsquote von 20 bis 25%“ sprach (3) und Jagdanleitungen mit dem Titel „Empfehlungen zur Vermeidung und Aufdeckung Ungerechtfertigten Leistungsbezuges von Praktikern für die Praxis“ erschienen.
Jetzt stellt die Bundesarbeitsagentur EU-Bürger*innen, die Leistungen in Jobcentern beantragen, unter den Generalverdacht des Leistungsmissbrauchs. Die „Arbeitshilfe“ vom April 2018 schlägt eine Sonderbehandlung von EU-Bürgerinnen vor. Sie zielt dabei explizit insbesondere auf Menschen aus Bulgarien und Rumänien und bedient antiziganistische Stereotype. Verdächtigte Unionsbürger*innen sollen ihren Anspruch mit besonders vielen Nachweisen belegen – jeder Nachweis wird aber gleichzeitig auch verdächtig gemacht. Zudem sollen sie besonders eng kontrolliert und für besonders viele Maßnahmen verpflichtet werden. Das nationalistische Abschotten an den Außengrenzen geht mit rassistischen Ausschlüssen im Innern einher.
Nirgendwo in dem Papier gibt es irgendeine Beweisführung, auf S. 2 Mitte beginnt jeder Absatz mit „offensichtlich“, „häufig“, „nicht selten“, „manchmal“, „gelegentlich“, „vermutlich“. Eine lächerliche Herangehensweise von offensichtlichen Laien, die sich ihre Informationen aus Wikipedia oder dem zitierten “ Wirtschaftslexikon Gabler“ zusammenstückeln. Einzig getrieben von Hass.
Hingegen lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sich (statistisch betrachtet) im gesamten Apparat der BA und der Jobcenter durchaus kriminelle Elemente tummeln (wie überall). Nachweislich sind von ihnen mehrere hunderttausend Euro ergaunert worden.
EU-Bürger*innen ohne deutschen Pass werden in Deutschland seit einigen Jahren immer weiter von sozialen Rechten ausgeschlossen (4). In Notlagen haben sie oft keinen Anspruch auf existenzsichernde Leistungen. Die Ausgrenzung fördert Verarmung, Obdachlosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse. Auf wachsende Armut und verschärfte Ausbeutung reagieren Bund und Kommunen zunehmend kontroll- statt sozialpolitisch. Nun soll diese Entwicklung noch verschärft werden durch ein neues „Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch“ (5).
Zur Abwehr hat sich das Netzwerk „Europa in Bewegung“ gegründet, das mit Unterstützung verschiedener Erwerbslosen- und Migrant*innengruppen nun mit einem Aufruf (6), einer Presseerklärung (7) und einer Analyse des Hetzpapieres (8) an die Öffentlichkeit trat. Claudius Voigt von der „Gemeinnützigen Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender“ (GGUA) berichtete über die Geschichte des Leistungsausschlusses von EU Bürger*innen und endete mit den Worten: Es braucht dringend politischen Druck um die Entwicklung zu stoppen! (9)
Francesca von „Berlin Migrant Strikers“ empörte sich: „Wir sind eure Kellner*innen, Krankenpfleger*innen oder bringen eure Pakete – ihr kontrolliert, kriminalisiert und macht uns zu Bürger*innen 2. Klasse“.
Die Bundesagentur für Arbeit hat die Herausgabe der „Arbeitshilfe …“ verweigert mit der Begründung: „Die Arbeitshilfe steht wegen möglicher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nicht zur Einsicht zur Verfügung (§ 3 Nr. 2 IFG). …“ (10).
Sie wurde jetzt als Abschrift dankenswerterweise auf indymedia anonym veröffentlicht. Indymedia spielt eine wichtige Rolle für „Whistlblower*innen“ und zur Verbreitung geleakter Informationen. Das Unterportal linksunten.indymedia wurde vor rund 1 ½ Jahren vom Bundesinnenministerium als „Verein“ klassifiziert und verboten. Klagen dagegen sind anhängig. Drei Berliner AutorInnen, die sich 2017 gegen das seinerzeit verfügte Verbot des internet-Mediums linksunten.indymedia aussprachen, werden deswegen derzeit von der Berliner Staatsanwaltschaft anklagt (11)
(1) Pressekonferenz: https://europainbewegung.de/pressekonferenz/
ND-bericht vom 03.04 zur Pressekonferenz:
Organisierte Leistungsverweigerung
Beratungsstellen und Betroffene verwahren sich gegen einen pauschalen Betrugsverdacht gegen EU-Migranten – von Ines Wallrodt und Marie Frank
(2) Bundesagentur für Arbeit: „Arbeitshilfe – Bekämpfung von organisiertem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger – Nur für den internen Dienstgebrauch – Vermeidung und Aufklärung rechtswidriger Leistungszahlungen an EU-Bürger“:
http://tinyurl.com/y64gby38
(3) Missbrauchsquote von 20 bis 25%
https://www.heise.de/tp/features/1-Euro-Jobs-und-andere-Zahlenspielereien-3406686.html
(4) Zeitleiste: Gesetzliche Änderungen in Bezug auf EU-Bürger*innen in der BRD seit 2005:
https://europainbewegung.de/wp-content/uploads/2019/04/Zeitleiste-gesetzliche-%C3%84nderungen-EU-B%C3%BCrger-fertig.pdf
(5) Entwurf eines Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch
https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/Abteilungen/Abteilung_III/19_Legislaturperiode/Gesetz-zur-Staerkung-der-FKS/2-Regierungsentwurf.pdf
(6) Aufruf: https://europainbewegung.de/aufruf/
(7) Presseerklärung: Gegen Ausschluss und Kriminalisierung von EU-Bürger*innen – Existenzsichernde Leistungen für alle, die hier leben!
https://tacheles-sozialhilfe.de/startseite/aktuelles/d/n/2495/
(8) Analyse des Hetzpapieres: https://europainbewegung.de/analyse-der-arbeitshilfe/
(9) Stellungnahmen zum Referent*innenentwurf zu einem „Gesetz zur Bekämpfung von Missständen am Arbeitsmarkt, illegaler Beschäftigung sowie von Kindergeld-und Sozialleistungsmissbrauch“
GGUA (Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender):
https://ggua.de/fileadmin/downloads/unionsbuergerInnen/Stellungnahme_Kindergeld-Verweigerungsgesetz.pdf
Stellungnahme der Diakonie: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/Abteilungen/Abteilung_III/19_Legislaturperiode/Gesetz-zur-Staerkung-der-FKS/Stellungnahme-Diakonie.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins: https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Gesetzestexte/Gesetze_Gesetzesvorhaben/Abteilungen/Abteilung_III/19_Legislaturperiode/Gesetz-zur-Staerkung-der-FKS/Stellungnahme-DAV.pdf?__blob=publicationFile&v=2
(10) Gefährdung der öffentlichen Sicherheit https://fragdenstaat.de/anfrage/arbeitshilfe-bekampfung-von-organisiertem-leistungsmissbrauch-durch-eu-burger/
(11) Die Zensur findet längst statt: https://de.indymedia.org/node/30398
Mehr dazu:
Leider fehlt der Hinweis auf den Bericht zur Pressekonferenz in „Neues Deutschland“ – (03.04.2019): Organisierte Leistungsverweigerung
Beratungsstellen und Betroffene verwahren sich gegen einen pauschalen Betrugsverdacht gegen EU-Migranten – von Ines Wallrodt und Marie Frank
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1115946.eu-migranten-organisierte-leistungsverweigerung.html?action=print
Dazu auch ein nettes Video, ganz frisch von BASTA BERLIN (3 Min.):
Willkommen im Jobcenter? „Sie lügen, lügen lügen…!“
https://www.youtube.com/watch?v=Qkdb8HSpAyU&feature=youtu.be
Und die Schreckensmeldungen des Tages:
Crème Critique†@CremeCritique
Die rassistische Politik der @SPDDuisburg geht weiter: Gestern wurden 150 Menschen mit Gewalt aus ihren Wohnungen in #Duisburg #Marxloh geworfen. Die Wut über diese Verhältnisse können wir alle heute direkt zum Rathaus zu den Verantwortlichen tragen. KUNDGEBUNG 15.00 UHR RATHAUS
https://twitter.com/CremeCritique
https://www.waz.de/staedte/duisburg/stadt-raeumt-vier-schrottimmobilien-in-duisburg-marxloh-id216825607.html
Und: Monitor zum Verbrennungstod in Kleve (krass!)
Bisher ging man von offizieller Seite davon aus, dass #Amad A. mit einem per Haftbefehl gesuchten Malier verwechselt wurde. Jetzt heißt es dass eine gezielte Manipulation von Datensätzen nicht mehr auszuschließen ist.
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/extras/pressemeldung-jva-kleve-102.html