Die Klezmer Gruppe der Musikschule und Schüler:innen des Louis-Baare-Berufskollegs gestalteten in Bochum die Gedenkveranstaltung zum 86. Jahrestag der Reichspogromnacht
Bei der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht an der Stele, die an die am 9. November 1938 zerstörte Bochumer Synagoge erinnert, fand Oberbürgermeister Thomas Eiskirch in seinem Grußwort bemerkenswert klare Worte zu einem aktuellem Vorfall. Er würdigte die Fußballmannschaft des SK Bochum, die ein Spiel gegen den WSV Bochum absagte, weil dieser Verein sich weigerte, einen Spieler aus der Mannschaft zu nehmen, der rechtsradikale Beiträge auf Instagram veröffentlicht hatte. Eiskirch warf dem WSV mangelnde Haltung vor. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand ein Präsentation von Schüler:innen des Louis-Baare-Berufskollegs über den Lebensweg von Siegbert Vollmann
Sie haben bo-alternativ freundlicher Weise das Manuskript ihres Vortrages zur Verfügung gestellt:
Thematische Annäherung: Womit haben wir uns beschäftigt? – unsere Motivation
Wir haben uns im Unterricht viel mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Dabei stand der 9. November mit der Reichspogromnacht im Mittelpunkt.
Wir waren zusammen im Stadtarchiv und haben eine Führung bekommen und konnten Recherchen zum Thema durchführen. Dadurch wurden wir auf viele Bochumer Juden aufmerksam, vor allem auf Siegbert Vollmann, zu ihm kommen wir gleich.
Uns ist wichtig, dass wir nicht vergessen dürfen, was damals passiert ist. Die Juden verloren damals alles. Sie mussten flüchten, verloren ihr zuhause und wurden ermordet.
Dazu ist uns nochmal klar geworden, dass wir das Selbstverständliche von heute jederzeit verlieren könnten. Dass es uns heute so gut geht, sollten wir wertschätzen und wir sollten daran arbeiten, dass es so bleibt.
Warum Siegbert Vollmann?
Siegbert Vollmann war eine wichtige historische Person zur damaligen Zeit in Bochum, weil er sich im besonderen Maße für die jüdische Gemeinschaft in Bochum eingesetzt hat. Den Holocaust hat er als einer der wenigen Bochumer Juden überlebt.
Siegbert Vollmann hat durch Briefe mit anderen Juden kommuniziert und hat immer davon abgeraten nach Bochum zurückzukehren, obwohl er sich selbst dafür entschieden hat.
Er kam drei Monate nach dem Krieg zurück nach Bochum.
Ohne den Einsatz von Siegbert Vollmann würde es die heutige Jüdische Gemeinde in Bochum in dieser Form nicht geben. Siegbert Vollmann hat sich nicht klein machen lassen und ist ein regionaler Held für die Juden hier in Bochum und Umgebung und ist ein Vorbild für die Juden.
Biografie Siegbert Vollmann
Siegbert Vollmann wurde am 23.08.1882 geboren und verstarb am 25.07.1954 an einem Herzinfarkt. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Wiemelhausen beerdigt. Er war verheiratet mit einer christlichen Frau, namens Emmy.
Siegbert Vollmann und seine Frau Emmy hatten einen Sohn, namens Gert. Gert heiratete Barbara, mit ihr hat er 3 Kinder.
Am 31.07.1935 wurde Vollmann aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Judentum auf Veranlassung der NSDAP Bochum von seiner Arbeit als Abteilungsleiter beim Kaufhaus Alsberg entlassen. Im Anschluss gründete er eine Fabrikation von Berufskleidung.
In der Nacht vom 9. November auf den 10. November wurden 1938 Synagogen und weitere jüdische Einrichtungen im gesamten Deutschen Reich verbrannt.
Zur Reichspogromnacht berichtet Vollmann:
„[…] Am Frühmorgen des 10. November 1938 wurde ich von einem Freunde telefonisch angerufen und über die Vorgänge der Kristallnacht unterrichtet. Da meine Verwandten in Moers auch unter diesen Vorgängen gelitten hatten, fuhr ich am gleichen Vormittag nach dort, um mich über das Ergehen meiner Verwandten zu erkundigen. Von hier aus fuhr ich dann mit der Straßenbahn nach Düsseldorf. Als ich dort erfuhr, dass alle männlichen Juden in der Nacht verhaftet und in Schutzhaft genommen waren, fuhr ich nicht nach Bochum zurück, sondern nach Moers und hielt mich dort verborgen. Wie ich später erfuhr waren zweimal Polizeibeamte an meiner verschlossenen Wohnung, um mich zu verhaften. […] Ich bin dann kurz vor Weihnachten nach Bochum zurückgekehrt. […]“
Siegbert Vollmann an das Amt für Wiedergutmachung am 16.01.1950
Im Anschluss an die Reichspogromnacht wurde Vollmanns Geschäft aufgrund der veränderten Rechtslage geschlossen.
Ab Januar 1939 hatte er keine Einkünfte und lebte mit seiner Frau von seinen Ersparnissen.
Dem Sohn der Vollmanns war mit einem Kindertransport die Ausreise in die Niederlande ermöglicht worden. Er konnte seine Eltern 10 Jahre nicht sehen.
Ab Anfang 1941 wurde Siegfried Vollmann auf Veranlassung der Gestapo in Tiefbaufirmen zwangsweise als Hilfsarbeiter eingesetzt. Ab 1943 wurde für alle Juden Westfalens ein Arbeitsverbot erlassen.
Ende September 1944 wurden Vollmann und einige Kollegen nach Thüringen transportiert. Während die meisten Gefangenen nach einem Zwischenaufenthalt in einem Lager bei Halle nach Theresienstadt transportiert wurden, kam Vollmann in ein Internierungslager in Berlin.
Dieses konnte er nach dem Krieg verlassen und kehrte drei Monate nach Kriegsende zurück nach Bochum.
Vollmann, der wiederholt in Entnazifizierungsverfahren als Zeuge auftrat, in Bochum zu den Gründungsmitgliedern der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gehörte, stellte in im November 1949 zur Nachkriegszeit resigniert fest:
„[…] Der Antisemitismus sitzt noch tief im Volke und in unserer jüdischen Zeitung kann man von ihm und den vielen Gräberschändungen reichlich genug lesen. Die jüngeren Menschen, die hier noch leben, hätten gut getan auszuwandern, statt Familien zu gründen. […]“
Siegbert Vollmann an Familie Jakobsohn am 19.11.1949
Trotz dieser Erkenntnis ließ sich Siegbert Vollmann nicht unterkriegen und trat in der Folge für die jüdische Gemeinde in Bochum und Umgebung als Kontaktmann mit Beziehungen in alle Welt in Erscheinung.
In vielen Briefen berichtet Vollmann über die Entwicklung der Gemeinde und das Geschehen in Bochum. So ist er zu einem wichtigen Berichterstatter der Nachkriegsjahre in der Stadt geworden.
Herausforderungen auf dem Weg
Siegbert Vollmann musste im Laufe seines Lebens zahlreiche Herausforderungen bewältigen, die insbesondere durch die antisemitische Verfolgung während der NS-Zeit geprägt waren.
1935 verlor er aufgrund seiner jüdischen Herkunft seine Anstellung als Abteilungsleiter im Kaufhaus Alsberg in Bochum, was seine berufliche Existenz bedrohte.
Es war ihm unmöglich, eine neue Anstellung zu finden, sodass er sich notgedrungen selbstständig machte und eine Fabrik für Berufsbekleidung gründete. Diese Unternehmung stellte eine erhebliche persönliche und finanzielle Belastung dar, doch nach der Reichspogromnacht 1938 wurde sein Betrieb zwangsweise geschlossen, was einen weiteren schweren Einschnitt in sein Berufsleben bedeutete.
In dieser Zeit entging Siegbert Vollmann nur knapp einer Verhaftung und musste sich einige Wochen in Moers verstecken, um seine persönliche Sicherheit zu schützen.
Die Lage verschärfte sich weiter, als die Familie aus ihrer Wohnung in der Alsenstraße vertrieben wurde, was eine existenzielle Bedrohung darstellte.
Die Bemühungen, in die USA auszuwandern, scheiterten und die Familie litt unter den zunehmenden Repressionen in Deutschland. Um ihren Sohn Gert in Sicherheit zu bringen, organisierten die Vollmanns seine Ausreise in die Niederlande mit einem Kindertransport.
Es dauerte fast zehn Jahre, bis die Familie wieder vereint war, was eine enorme emotionale Belastung bedeutete.
Während des Krieges musste Siegbert Vollmann körperlich schwere Hilfsarbeiten verrichten, was seine Gesundheit stark beeinträchtigte.
1944 wurde er schließlich in ein Internierungslager für Juden in Berlin eingesperrt. Diese Erfahrungen hinterließen ihn bei seiner Rückkehr nach Bochum im Jahr 1945 schwer erkrankt und arbeitsunfähig.
Vollmann als Chronist seiner Zeit
Über die Entwicklung Bochums in der Nachkriegszeit berichtet Vollmann wie folgt:
„[…] Bochum hat schon in normaler Zeit sehr wenig geboten und heute ist gar nichts mehr los, dafür ist die Stadt zu stark zerstört. Herne und auch Gelsenkirchen, Städte, die zum Teil wenig von den Bombenangriffen mitbekommen haben, machen jetzt das Rennen. […]“
Brief an Herrn Goldschmidt in Glasgow vom 9. Juli 1947
„[…] Balz baut fieberhaft an seinem Parterrelokal und seinen Fenstern und wird nächstens eröffnen[…].“
Brief an Familie Mayer in Nutley vom 6. Oktober 1948
„[…] Kortum hat Ende Juni seine neuen Räume eröffnet. Das Parterrelokal ist wieder vollkommen hergerichtet, es fehlt nur die Kleiderstoffabteilung und die frühere Schreibwarenabteilung. Das ganze macht einen vorzüglichen Eindruck.[…]“
Brief an Dr. Meyer in San Francisco vom 4. September 1949.
Trotz der positiven Fortschritte machte sich Vollmann Sorgen:
„[…] Wir haben ja nun die neue Währungsreform und sind dadurch total verarmt. Man muss sich heute jede Ausgabe reichlich überlegen und erst einmal abwarten, wie der Hase laufen wird.“
Brief an Carlos Haber in Argentinien vom 30. Juni 1948.
[…] Die Verhältnisse hier sind miserabel, so kann es nicht weiter gehen. Das sehen alle Menschen, außer den Geschäftsleuten ein. Es ist alles wahnsinnig teuer […].“
Brief an Familie Freimark in Philadelphia vom 15. Dezember 1948.
Auch über sein persönliches Leben stellte Vollmann fest:
„[…]Ich bin reichlich alt, um nochmals von vorne anzufangen und dann hapert es sehr mit meiner Gesundheit. […]“
Brief an Erich Dammann in Lissabon vom 15. September 1948.
Fazit
Wir wollen an diesem heutigen Tag noch mal explizit das Thema des Antisemitismus ansprechen, Siegbert Vollmann schrieb dazu 1950:
„[…] Es wird natürlich immer eine starke Rechtsströmung geben und auch der Antisemitismus wird in Deutschland nicht aussterben, selbst wenn keine Juden mehr in Deutschland sind […]”.
Brief an Familie Freimark in Philadelphia vom 21.06.1950.
Vor 86 Jahren fand die Reichspogromnacht statt und damit haben viele Juden ihr Zuhause, ihre Lebengrundlage und letztlich auch ihr Leben verloren. Wie Siegbert Vollmanns Zitat auch im Jahr 2024 zeigt, gibt es weiterhin Antisemitismus. Wir möchten durch seine Lebensgeschichte darauf aufmerksam machen, dass es sich lohnt, dagegen anzukämpfen und an das Gute zu glauben.
Siegbert Vollmann war trotz aller Erfahrungen und Ungerechtigkeiten, die er während der NS-Zeit erlebt hat, ein Kämpfer für die Bochumer Stadt und seine jüdische Gemeinde.
Er hätte allen Grund gehabt, sich zurückzuziehen, er entschied sich aber anders. Er hatte als Jude leiden müssen und wollte nach dem Krieg bewusst als Jude leben.
Mit der Gründung der jüdischen Nachkriegsgemeinde war er Motor für deren Entwicklung unter schwierigsten Bedingungen. Obwohl er immer kränker wurde, war er bis wenige Tage vor seinem Tod aktiv.
Zuletzt setzte er durch, dass ihm zugesichert wurde, dass seine christliche Ehefrau nach ihrem Tod auf dem jüdischen Friedhof liegen würde. So geschah es dann auch.
Jetzt bleibt die Frage was können wir tun, um von der Geschichte zu lernen?
Wir glauben, dass wir das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft keineswegs als Selbstverständlichkeit ansehen dürfen. In den Momenten, in denen wir das tun, sind wir als Gesellschaft angreifbar.
Um unsere Werte und Wünsche für Frieden, Toleranz und Respekt zu sichern, müssen wir uns ständig weiterentwickeln, weiter daran arbeiten und weiter dafür kämpfen. Siegbert Vollmann hat seinen Glauben und seine Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben niemals aufgegeben. Er hat ständig daran gearbeitet, bis er erfolgreich war. Siegbert Vollmann hat uns das gezeigt, weil er sich trotz aller Widrigkeiten nicht hat unterkriegen lassen und sich für den Erhalt und Neuaufbau der jüdischen Gemeinde in Bochum eingesetzt hat.
Sich über das Verhalten von anderen zu beschweren ist einfach, etwas daran zu verändern ist das, was zählt.
Vielen Dank.
Kurzvorstellung Louis-Baare-Berufskolleg und Klasse