Am 02.10.24 um 16 Uhr auf dem Dr. Ruer-Platz veranstaltet der Landesverband Psychatrie-Erfahrener NRW den Gedenktag an die Psychiatrie-Toten und schreibt : >>Der 2. Oktober wurde vom Bundesverband-Psychiatrie-Erfahrener e.V. zum Gedenktag der Psychiatrie-Toten erklärt. Seit dem Jahr 2000 gedenken wir der Menschen, die in, um und durch Psychiatrie, Forensik und Heime zu Tode kommen. Viele der Verstorbenen waren in unserem Verband persönlich bekannt. Die meisten Todesfälle bleiben jedoch unaufgeklärt und ohne Gedenken.
WODURCH STERBEN PSYCHIATRIE-BETROFFENE? Die Lebenserwartung Psychiatrie-Betroffener ist um 16 bis 25 Jahre verkürzt. Das hat verschiedene Ursachen:
Zwangsmaßnahmen. In Psychiatrien sind „Isolierung“ (= Einsperren in ein kahles Zimmer), „Fixierung“ (= Fesseln an ein Bett) und Zwangsbehandlung (= gewaltsames Einspritzen von Psychopharmaka) erlaubt. Allein in den Städten Bremen, Hamburg, Heidelberg und Lübeck kamen 2018 und 2019 sechs Menschen durch Zwangsmaßnahmen ums Leben.
Psychopharmaka. Selbst bei leitliniengerechter Dosierung besteht ein erhöhtes Risiko für plötzlichen Herztod und lebensbedrohliche medizinische Zwischenfälle. Das Risiko steigt mit der Dosis sowie mit der Anzahl der verabreichten Medikamente (Polypharma-zie). Polypharmazie ist in der Psychiatrie nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Bereits bei drei Neuroleptika ist die Sterblichkeit 6-fach erhöht.
Suizid. Seelisch leidende Menschen nehmen sich eher das Leben. Psychiatrisierung und die dort erfahrene Behandlung verstärken oft das Leiden. Psychiatrien sind die einzigen Krankenhäuser, in denen Schmerz mit Gewalt behandelt wird. Isolation, Tristesse, Objektifizierung, körperliche und seelische Gewalt können jeden Menschen traumatisieren und in tiefe Verzweiflung stoßen – in einer seelischen Krise können sie tödlich sein. Das Suizidrisiko ist am höchsten während stationärer psychiatrischer Behandlung und nach der Entlassung. In der Woche nach Entlassung ist es 278-fach erhöht, im Jahr danach immer noch bis zu 60-fach.
Unfälle. Viele Psychopharmaka schränken die Reaktionsfähigkeit ein. Eine Folge ist ein erhöhtes Risiko für Stürze, Haushalts-, Fußgänger-, Fahrrad- und Autounfälle.
Polizeischüsse. Die Polizei ist schlecht bis gar nicht für den Umgang mit Menschen in Krisen geschult. Ihr eskalatives Vorgehen in solchen Einsätzen ist tödlich: Zwei Drittel der durch Polizeischüsse getöteten Menschen waren in einer Krise oder verwirrt. Häufig sollte mit den Einsätzen eine Zwangseinweisung oder eine Vorführung vor Gericht vollzogen werden. Hierfür darf die Wohnung Psychiatrie-Betroffener aufgebrochen und gestürmt werden.
Körperliche Erkrankungen. Viele Psychiatrie-Betroffene sterben an denselben Ursachen wie andere Menschen auch (v.a. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs). Allerdings sterben Psychiatrie-Betroffene hieran durchschnittlich 20 Jahre früher. Zum einen erhöht längerfristige Psychopharmaka-Einnahme das Risiko für diese Erkrankungen. Zum anderen werden körperliche Beschwerden bei „psychisch Kranken“ weniger ernst genommen und schwerwiegende Krankheiten später erkannt und behandelt.
WIE VIELE MENSCHEN STERBEN AUF DIESE WEISE?
Es ist davon auszugehen, dass jedes Jahr mehrere Tausend Menschen auf psychiat-rischen Stationen, in forensischen Psychiatrien und in Heimen für „psychisch Kranke“ sterben. In der Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamts finden sich die so genannten „Abgänge durch Tod“. In den letzten 11 Jahren waren dies zusammengerechnet 23.784 Menschen.
2010: 1.747
2014: 1.818
2018: 2.159
2011: 1.759
2015: 1.879
2019: 2.230
2012: 1.883
2016: 1.860
2020: 2.198
2013: 1.805
2017: 2.027
2021: 2.419
Dies sind „nur“ die stationär-psychiatrischen Sterbefälle in der Erwachsenen- und der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Darin sind noch nicht die Menschen einberechnet, die in psychiatrischen Wohnheimen, unter ambulanter psychiatrischer Behandlung und im Maßregelvollzug sterben. Es fehlen auch die Menschen, die rückwirkend entlassen wurden oder kurz vor ihrem Tod auf Intensivstationen oder anderweitig verlegt wurden. Im Jahr 2021 z.B. wurden 30.941 Menschen aus der Erwachsenenpsychiatrie in andere Krankenhäuser verlegt. Das waren 4,4%
aller Entlassungen.
WAS WIRD DAGEGEN UNTERNOMMEN?
Die großen „Institutionen“ der Psychiatriepolitik (Gesundheitsministerium, Krankenkassen, psychiatrische Fachverbände) ignorieren das Thema Psychiatrie-Tote. Entsprechend gibt es auch innerhalb der etablierten Strukturen (die den Schaden anrichten) keine Initiative, die die Verlängerung der Lebenserwartung und Verbesserung der Lebensqualität Psychiatrie- Betroffener zum Ziel hat. Jede medizinische Disziplin muss sich an ihrem Einfluss auf die Lebenserwartung messen – die Psychiatrie jedoch offenbar nicht. Da die Zahlen der Toten aktuell überhaupt nicht erhoben werden, kann immer gesagt werden, es bestehe kein Anlass zum Handeln.
Wichtige Arbeit leisten Betroffenenverbände und Gruppen vor Ort: Durch Aufklärung, Beratung, solidarische Unterstützung, Information zum Absetzen von Psychopharmaka und Aufnahme von Menschen in Krisen – statt Psychiatrie.
WAS KANNST DU TUN?
- Verbreite Informationen über Todesfälle in Psychiatrien, thematisiere sie im Gespräch mit Freundinnen, Kolleginnen, Familie.
- Falls du Kontakte zu vertrauenswürdigen Anwält:innen, Journalist:innen oder Menschen in der Politik hast, kannst du Betroffenenverbände mit diesen verbinden.
- Nimm Kontakt zu Menschen in den Einrichtungen auf und frag nach, wie es ihnen geht und ob sie anständig behandelt werden. Du kannst z.B. beim Gang über ein Klinikgelände oder in der Nähe von Heimen mit den
- Leuten ins Gespräch kommen oder auf dem Patiententelefon anrufen (bei der Zentrale um Durchstellung auf die „geschützte“ Station bitten).
- Schließ dich anderen psychiatriekritischen Menschen / Gruppen an und überlegt, welche Aktionen in eurer Region sinnvoll sind.
BUNDESVERBAND PSYCHIATRIE-ERFAHRENER e.V.
Herner Str. 406
44807 Bochum
www.bpe-online.de
Email: kontakt-info@bpe-online.de Tel.: 0234 / 6870 5552
LANDESVERBAND PSYCHIATRIE-ERFAHRENER NRW e.V.:
Herner Str. 406
44807 Bochum
www.psychiatrie-erfahrene-nrw.de
Email: vorstand@psychiatrie-erfahrene-nrw.de
Tel.: 0234 / 640 5102
WEGLAUFHAUS INITIATIVE RUHRGEBIET e.V.
Herner Str. 406
44807 Bochum
www.weglaufhaus-nrw.de
Email: info@weglaufhaus-nrw.de
Tel.: 0234 / 640 5084
Die Kritik ist in Teilen sicher gerechtfertigt, aber ich finde die Art und Weise problematisch. Ich hoffe mal, dass die Zahlen in der ursprünglichen Form mit Quellen hinterlegt waren, die Aufarbeitung ist aber so oder so stümperhaft. Die 23.784 Menschen, die „in den letzten 11 Jahren“ so gestorben sind, sind z. B. die Menschen, die in den zwölf Jahren von 2010 bis 2021 gestorben sind, weder „den letzten“ noch „11“. Oder der Teil zur Suizidalität: auf der Intensivstation ist die Sterblichkeit sicher auch höher als anderswo, macht das die Intensivmedizin grundsätzlich verwerflich? Wenn man die hier implizierte Deutung pushen will, sollten doch zumindest Quellen genannt werden, die diese stützen.
Davon abgesehen ist aber psychische Krankheit auch immer noch stigmatisiert, Hilfe zu finden ist schwierig und mit viel Überwindung verbunden und hier wird Psychiatrie implizit als reiner Zwang gefärbt, was die Hemmschwelle sich Hilfe zu suchen sicher nicht senkt. Kritik ist sicher gerechtfertigt und wichtig, aber das hier sollte man vielleicht doch lieber in die Tonne kloppen oder zumindest nochmal grundlegend überarbeiten und sich generell mal über die Art und Weise Gedanken machen.