Samstag 02.09.23, 17:49 Uhr
Ralf Feldmann, Friedensplenum Bochum, am Antikriegstag 2023 in Bochum

Krieg dem Kriege – Wenn wir nein sagen


Über die Opfer will ich am Antikriegstag reden. Die Bilder der Opfer werden in die hintersten Abteilungen unserer Erinnerung verdrängt, weil sie unerträglich sind. Wo gäbe es sie in den Geschichtsbüchern unserer Kinder? Die Leichenhaufen aus den Gräben des ersten Weltkrieges, die von Granaten zerspaltenen Gesichter von Überlebenden, Körper ohne Beine. „Versehrte“ heißen die im Krieg abgenutzten und verkrüppelten Menschen, „Gefallene“ die Zerstückelten. „Krieg dem Kriege“ nannte Ernst Friedrich vor hundert Jahren sein Buch, eine Bildersammlung des Grauens.

Die zeigt nicht nur die bis zum letzten Mann Niedergemetzelten, sondern auch an weißgedeckten Tischen die gutgelaunten Befehlshaber in anheimelnder Gartenlandschaft bei der Vor- oder Nachbereitung des Mordens. „Zeigt diese Bilder allen Menschen, die noch denken können!“, war der Aufruf im Vorwort des Buches. “Wer dann noch diesen Massenmord bejaht, den sperre man ins Irrenhaus, den meide man, wie man der Pest ausweicht! Es sei denn, daß die Nationalisten und Kriegshetzer, die Könige und Generäle unter sich den Krieg zu führen wünschen, auf eigene Rechnung und Gefahr, und keinen Menschen zwingen, gegen seinen freien Willen mitzumachen!“
Warum erinnere ich daran? Gerade sagen führende Militärs, Politiker und leitende Kommentatoren in den Medien den Menschen in der Ukraine einen länger dauernden Stellungs –und Abnutzungskrieg voraus, wie vor gut hundert Jahren in Flandern und Nordfrankreich – mit tausenden Toten und Verkrüppelten auf beiden Seiten. Deshalb müsse man die Ukraine mit allen dazu nötigen Waffen versorgen. Zum Beispiel mit Streubomben. Die setzen noch in der Luft hunderte Projektile und Minibomben frei, mit Splitterladungen und Minen, die über große Flächen verstreut werden. Viele Blindgänger explodieren unerkannt erst Jahre später, treffen Bauern auf dem Feld oder Kinder beim Spielen. 3,7 Millionen Streubomben mit je 80 Sprengkörpern, also fast 300 Millionen Sprengköpfe wollen die USA der Ukraine liefern. Verheerend ihre Wirkung in den Gräben und Stellungen. „Sieht so die Verteidigung westlicher Werte, sieht so der Schutz der Humanität aus?“, fragt Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. „Ist das Grauen ein besseres Grauen, wenn es zur Abwehr des Grauens eingesetzt wird. Es kann doch nicht im Ernst eine Begründung für den Einsatz von Streubomben sein, dass auch Putin sie einsetzt.“
Streubomben sind durch das Osloer UN-Übereinkommen von 2008 völkerrechtlich geächtet. Außenminister Steinmeier unterzeichnete es für Deutschland. Russland, die Ukraine und die USA sind nicht beigetreten. Jetzt verteidigt Bundespräsident Steinmeier im ZDF-Sommerinterview die Streubombenlieferung: er wolle den Amerikanern nicht in den Arm fallen. Vasallentreue zur Inhumanität der Vormacht statt moralischer Standhaftigkeit. Moralische Überlegenheit im Ukrainekrieg? Der Westen behauptet sie für sich. Wo bleibt sie beim Bundespräsidenten und allen, die Streubomben liefern oder dazu schweigen?
Im Sanatorium Roscha bei Charkiw können traumatisierte ukrainische Soldaten – jeweils ganze zwei Wochen – eine therapeutisch begleitete Auszeit vom Krieg nehmen, wenn sie kurz vor dem psychischen Zusammenbruch an der Front für den Krieg nicht mehr brauchbar sind. Eine Heilung in zwei Wochen sei natürlich nicht möglich, sagen Therapeutinnen, aber die Soldaten könnten Energie tanken, um ihrer Aufgabe wieder „gerecht zu werden“. Die Journalistin Sonja Zekri konnte therapeutische Gespräche beobachten. Was tun, wenn die Soldaten in höchster Not der „Stupor“ ergreift, ein erstarrungsartiger Zustand in höchstem
Stress, der teilnahmslos und gelähmt macht? Die Psychologin, so berichtet Sonja Zekri, empfiehlt den Soldaten dagegen Stirnmassagen, Atemübungen, leise Ansprache des erstarrten Kameraden. „Wie nicht schreien, wenn drum herum die Granaten einschlagen?“ erwidert ihr einer und ein anderer sagt, ohne das Gebrüll seiner Kameraden hätte er nie aus der Lähmung herausgefunden, als ihm nach einem Einschlag ein Holzsplitter ins Auge geflogen sei. Manchmal seien, erzählt einer, 500 Granaten am Tag auf sie herab gehagelt. Schwere Gehirnverletzungen, vor allem durch die Druckwellen der Artillerie seien in seiner Einheit so häufig wie Schnupfen. Wenn einer ganz knapp überlebe, sprächen sie von seinem „Geburtstag“. Er habe schon dreimal Geburtstag gehabt. Was bleibt diesen Männern, wenn sie denn überleben?
Die Zahlen der Toten, Verwundeten, Verkrüppelten sind auf beiden Seiten des Schlachtfelds tabu. Sie könnten kriegsmüde machen. Annalena Baerbock, unsere kriegerische Außenministerin, warnt vor Kriegsmüdigkeit auch bei uns zu Hause – bisher noch weit vom Schuss, bisher aber zu beinahe jeder Lieferung bereit. Sie fordert „Wehrhaftigkeit auf der Höhe der Zeit“ mit nuklearer Abschreckung als hätte sie die schrecklichen Bilder von Hiroshima und Nagasaki aus ihrer Erinnerung verbannt. Und als sei die Angst vor einem atomaren Ende nur ein Hirngespinst.
Wie viele Menschenopfer noch? Schluss damit! Statt endlosem Sterben: Verhandeln für Kompromisse, jetzt! Unsere Regierung muss jetzt endlich Vorschläge für einen Kompromissfrieden machen statt illusorischen Kriegszielen Vorschub zu leisten.
Was können wir selbst tun? Krieg dem Kriege ist die Antwort: Wir wollen ihn nicht, wir sagen nein, wir verweigern Krieg. Wie schon vor hundert Jahren gilt heute mehr denn je: „Es liegt in u n s e r e n Händen, unserer Kraft, das Ungeheuerlichste zu verhüten, zu verhindern.“ Wenn wir nein sagen.
Sterbt alleine, eure Kriege ohne uns