Samstag 28.01.23, 08:08 Uhr

Kinderarmut in Bochum auf Rekordniveau


von Norbert Hermann, Bochum Prekär
Am Donnerstag, 26.02., hat die Bertelsmann-Stiftung Zahlen veröffentlicht über den immensen Anstieg der Kinderarmut (1). Unter der Regentschaft Eiskirch I. ist die Anzahl der armen Kinder in Bochum um fast 2000 Jungen und Mädchen gestiegen, auf jetzt wohl weitaus mehr als 16.000 Kinder (unter 18 Jahren), trotz aller vollmundigen Bekundungen, etwas dagegen unternehmen zu wollen (2). Eiskirch kontert in einem WAZ-Interview (3): “ Wir haben die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse um 20.000 vergrößert.“ Da kann sich mensch nur fragen: „Was sind das wohl für Jobs, wenn zugleich die Kinderarmut so immens steigt“.

Die Bertelsmann-Stiftung war allerdings wesentlich an der Entwicklung von Hartz IV beteiligt, zusammen mit Wirtschafts- und Gewerkschaftsvertreter*innen (4). Jetzt scheint ihnen aufzugehen, dass sie damit die Bereitstellung von Material für die Verwertungsmaschinerie Lohnarbeit behindert haben.

Die Armutsschwelle liegt für Singles bei 1.148 Euro, stufenweise mehr bei größeren Familien. Bertelsmann zieht aber nur die Anzahl der Menschen im (deutlich niedrigeren) Hartz IV zur Bestimmung der Armutsquote heran. Allerdings beziehen viele Menschen zwar ein Einkommen unterhalb der Schwelle zur Armutsgefährdung, beantragen aber aus Unkenntnis oder auch aus Scham keine SGB II- oder sonstige Leistungen. Mit Hilfe von Wohngeld und/oder Kinderzuschlag werden Familien aus der Hartz IV-Statistik herausgekickt, ohne wesentlich mehr Geld zur Verfügung zu haben. Auch wer knapp über allen Bedürftigkeitsschwellen liegt ist immer noch arm. Die Daten der Bertelsmann-Studie stammen aus dem Juni 2022. Es dürften heute noch weitaus mehr sein, noch massiv befördert durch die Lebenshaltungskostenkrise.

Die Armuts-Zahlen (nur die Kinder im Hartz IV-System) für Bochum: Kinder und Jugendliche unter 18: 25,6 %, etwa 14.400 Personen (Bundesdurchschnitt: 20,8 %), junge Menschen 18 – 25: 11,2 %, etwa 3.500 Personen (Bundesdurchschnitt: 25,5 %). Betroffen sind vor allem Kinder in  3.414 alleinerziehenden Familien und in Mehrkindfamilien. Für junge Menschen 18 – 25 Jahre  gibt es neben dem Hartz IV-System auch andere Unterstützungssysteme, wie BAföG, Wohngeld o. ä., offensichtlich unzureichend. Für Gelsenkirchen liegen die Zahlen bei 41,7 % und 22.1 %. Das ist aber kein Grund für Bochum, sich auszuruhen. Armut bedeutet per se eine Gefährdung des Kindeswohles.

Angesichts dieser Zustände wie Eiskirch auf Bildungsmaßnahmen zu verweisen ist Augenwischerei. Kinderarmut wird mit Geld bekämpft, sofort, nicht warten auf den Bund. An erster Stelle obliegt der Kommune die Daseinsvorsorge, auch in der Existenzsicherung. Mindestens aber müssen alle allgemeinen und öffentlichen Angebote für Kinder und junge Menschen, also Schule, Bildung und Kultur, Freizeit und Sport, Verkehr und Schulverpflegung, Gesundheit … komplett kostenfrei sein für alle. Auch bisschen Spaß und „Luxus“ muss sein! Dazu gehört auch ein Gutschein zu Weihnachten und zum Geburtstag.

Die Politik jeglicher Couleur interessiert das wenig. Allein die AFD und Konsorten erheben hier die Stimme. Und zwar nicht, wie kritisiert, um das Thema für ihre Zwecke zu missbrauchen. Ihnen liegt tatsächlich am „Sozialen“, allerdings nicht für Menschen mit Migration in der Familiengeschichte, sondern nur für ihre Volksgenoss*innen. Und von denen schließlich wohl nur für die „Nützlichen“.

Das wird ihnen Zulauf bringen. Die ganz Hoffnungslosen werden wir auf der Straße wiedersehen, und zwar nicht nur in der Silvesternacht. Die Corona-erprobte linke und linksliberale Szene wird schimpfend am Straßenrand stehen und nach der Polizei rufen. Das war vor nun bald 20 Jahren anders: Im August 2004 kamen auch in Bochum mehrfach mehr als eintausend Menschen zusammen, um gegen den „Sozialkahlschlag“ der Agenda 2010 und Hartz IV zu demonstrieren (5). Bundesweit waren es hunderttausende auf den Montagsdemos. Allerdings kommt es seit mehr als zehn Jahren zu einem Prozess der Entfremdung: Die (außer-) parlamentarische Linke ist dominiert von Akademiker*innen und hat kaum noch eine Verbindung zur „normalen“ Bevölkerung. „Dabei ließen sich die Armutsentwicklung und die soziale Frage im Allgemeinen sehr gut mit der Kritik an Lohnarbeit und der ökologischen Frage verknüpfen. Ein Großteil der Armuts- und Arbeitsmilieus hat sich aber von linker Politik abgewendet – und wie wir jene Menschen wieder erreichen können, sollte Gegenstand einer Selbstreflexion der Linken sein“ (6). Einige haben auch ihren damaligen Protest mittlerweile zum Geschäft gemacht: So ist der ehemalige Leiter des Jobcenter Dortmund und derzeitige Leiter der Bochumer Arbeitsagentur ein ehemaliger Erwerbslosenaktivist, die auf der Welle der Sozialproteste gegründete WASG (später mit der PDS zur „Linkspartei“ verschmolzen) versorgte linke Akademiker*innen mit bezahlten Jobs und sie tun das noch, auch in der Beratungs- und „Sozialindustrie“ kamen sie unter. Wo das Geld eine so große Rolle spielt, stellt sich dabei die Frage nach der Authentizität und auch der Glaubwürdigkeit. Auch der jahrzehntelange Erwerbslosenaktivist und (später) professionelle Sozialberater Harald Rein hat sich ausführlich mit diesen Fragen beschäftigt (7).

Quellen:

(1) https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2023/januar/neue-zahlen-zur-kinder-und-jugendarmut-jetzt-braucht-es-die-kindergrundsicherung
S. darin: „Factsheet“, S. 18:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/factsheet-kinder-und-jugendarmut-in-deutschland oder direkt:

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Familie_und_Bildung/Factsheet_BNG_Kinder-_und_Jugendarmut_2023.pdf

(2) https://www.bo-alternativ.de/2019/10/08/was-arme-kinder-brauchen/

(3) https://www.waz.de/staedte/bochum/bochum-gewerbesteuer-sprudelt-familien-ruecken-in-den-fokus-id237361317.html

(4) Bertelsmann und Hartz IV
Kinderarmut auf Rekordniveau: Bertelsmänner vergießen Krokodilstränen
https://www.telepolis.de/features/Kinderarmut-auf-Rekordniveau-Bertelsmaenner-vergiessen-Krokodilstraenen-7472064.html

„Die Anstalt“: Hartz-IV-Alptraum – Wie die gemeinnützige Bertelsmanns-Stiftung den Sozialraub Hartz IV durchsetzte – („Die Anstalt“ vom 24. April 2018, 2,52 Min.)
https://m.youtube.com/watch?v=BgEHEZM2TB4

Zusammensetzung der Hartz-Kommission
https://de.wikipedia.org/wiki/Hartz-Konzept#Zusammensetzung #

H. Spindler: War die Hartz-Reform auch ein Bertelsmann Projekt?
https://www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=4212

(5) Montagsdemos 2004 in Bochum:
https://www.bo-alternativ.de/alte-Neuigkeiten-08-04.htm
https://www.bo-alternativ.de/Bilder/montag-16-08-04/FrameSet.htm

(6) So die langjährige Erwerbslsoen- und Armutsaktivistin Anne Seeck gerade in nd-aktuell:
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170426.klassenpolitik-prozesse-der-entfremdung.html

(7) Harald Rein zur Situation der Linken und der Erwerbslosenbewegung
04. August 2022
https://www.labournet.de/interventionen/wipo-gegenwehr/mobilisierungsdebatte/die-desolate-situation-der-linken-ist-auch-eine-krise-der-erwerbslosenbewegung/

Zwischen 1998 und 2004 gab es drei gelungene Protestbewegungen gegen Sozialleistungskürzungen (22. September 2022)
https://www.labournet.de/interventionen/wipo-gegenwehr/mobilisierungsdebatte/wer-wann-und-wodurch-zwischen-1998-und-2004-gab-es-drei-gelungene-protestbewegungen-gegen-sozialleistungskuerzungen-daraus-laesst-sich-etwas-fuer-die-proteste-gegen-die-inflation-lernen/

Keine Atempause….? oder Zeit zum Luftholen! Sozialismus, Existenzgeld und Erwerbslosenbewegung (06. Oktober 2022)
https://www.labournet.de/interventionen/wipo-gegenwehr/mobilisierungsdebatte/keine-atempause-oder-zeit-zum-luftholen-sozialismus-existenzgeld-und-erwerbslosenbewegung/

Weitere Infos:
(8) Jürgen Aust: Verachtung der Armen – Eine linke Kritik der „Bürgergeld-Reform“
https://www.demokratisch-links.de/category/hartz4

(9) „Hartz IV ist ein Bürgerkrieg der politischen Klasse gegen die arm Gemachten“
Der Jesuit und Sozialwissenschaftler Friedhelm Hengsbach im Jahre 2010
https://gegenblende.dgb.de/artikel/++co++6f6f8f10-cbbb-11df-60c5-001ec9b03e44

(10) Extreme Pfennigfuchserei: Wie die neuen Hartz-IV-Regelsätze kleingerechnet werden sollen – Politisch motiviert und methodisch unsauber
https://kritisches-netzwerk.de/forum/wie-die-neuen-hartz-iv-regelsaetze-kleingerechnet-werden-sollen

(11) Die wichtigsten Zahlen zur Bochumer Bevölkerung
https://www.bochum.de/Referat-fuer-politische-Gremien-Buergerbeteiligung-und-Kommunikation/Statistik/Die-wichtigsten-Zahlen-zur-Bochumer-Bevoelkerung

(12) Kreisreport Grundsicherung SGB II – Kreise (Monatszahlen, aktuellste von 09/2022)
https://statistik.arbeitsagentur.de/SiteGlobals/Forms/Suche/Einzelheftsuche_Formular.html?topic_f=kreisreport-krp&r_f=nw_Bochum