Samstag 19.02.22, 21:09 Uhr
Dokumentation der Demonstration "Hanau wird nicht vergessen – Gedenken heißt kämpfen!" am 19. 2. 2022 in Bochum

Rede von Michael Niggemann, Seebrücke


Liebe Menschen,

wir als Seebrücke Bochum stehen für sichere Fluchtwege, gegen die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht und Retter:innen und für ein menschenwürdiges Ankommen und Bleiben geflüchteter Menschen. Die ermordeten Menschen in Hanau waren keine Geflüchteten, die meisten wurden in Deutschland geboren. Dennoch hat der Täter sie aufgrund ihres Migrationshintergrundes als vermeintlich „fremd“ gesehen und daher gezielt ermordet. Die nicht erst seit 2015 zunehmende Hetze gegen Geflüchtete schürt rassistische Ressentiments, die sich auf alle Menschen auswirken, die nicht in das faschistische Weltbild eines homogenen, „weißen“ Volkes passen.

Seit Jahren beobachten wir, wie Geflüchtete entmenschlicht werden, wie beispielsweise verzweifelte Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze nach Wasser und Essen rufen, während Politiker:innen, aber auch Journalist:innen sie als „Waffen“ und „hybride Kriegsführung“ bezeichneten und ihrer Menschlichkeit berauben. Eine Terminologie, mit der Waffengewalt gegen verzweifelte Menschen gerechtfertigt werden sollte, ein rassistischer Versuch, Gewalt gegen „die Geflüchteten“ zu rechtfertigen.

Ungeachtet der Tatsachen, dass diese Menschen als Druckmittel Lukaschenkos gegen die EU herhalten müssen, sind es dennoch verzweifelte, hungernde und frierende Menschen auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung und der Suche nach einer sicheren Zukunft. Menschen für die – eigentlich selbstverständlich – internationales Recht gilt, wie das Recht auf Würde, Leben, Gesundheit und das Recht auf ein Asylverfahren.

Diese Menschen wurden von polnischen Grenzsoldat:innen gewaltsam nach Belarus zurückgeschoben. Diese sogenannten Pushbacks sind illegal, verstoßen gegen die UN- Flüchtlingskonvention und bringen Menschen in Lebensgefahr und töten sie! Dennoch geschehen diese Pushbacks tagtäglich an den EU-Außengrenzen in Kroatien, Griechenland, auf dem Mittelmeer und anderswo. So ist die EU-Außengrenze die tödlichste Grenze der Welt.

Der Krieg gegen Flüchtende wird von Europa auf vielfältige Art und Weise, mit sehr viel Geld und sehr viel Macht geführt. Eine davon ist die medial und politisch geführte absurde Täter-Opfer-Umkehr, die Flüchtende zu Kriminellen und die verbrecherischen europäischen Abschottungsakteur:innen zu „Hüter:innen der Ordnung“ macht. Der politische und gesellschaftliche Diskurs wird weiter und weiter nach rechts verschoben, das Unsagbare wird wieder sagbar.

Hätten wir vor ein paar Jahren gedacht, dass wir auf Kundgebungen stehen müssen, um zu sagen, dass man Menschen nicht sehenden Auges ertrinken, verhungern und erfrieren lassen darf?

Hätten wir vor ein paar Jahren gedacht, dass wir öffentlich für Menschen eintreten müssen, weil diesen z.T. hohe Gefängnisstrafen drohen, da sie ehrenamtlich und unter großem Risiko, Menschen vor dem Ertrinken retten?

Doch was passiert, wenn Gruppen von Menschen Grundrechte aberkannt werden, wenn sie auf bloße Zahlen degradiert werden oder wenn mit ihnen gar als „Flüchtlingswelle“ oder „Flüchtlingskrise“ diffuse Ängste vor „Überfremdung“ geschürt werden?

Wenn auch hier Diskurse immer weiter nach rechts verschoben werden und ein Klima von Menschenhass geschaffen wird, dann fühlen sich Menschen mit einem rechten Weltbild berufen, das „Abendland“ auch mit Waffengewalt zu verteidigen. So wähnte sich auch der Täter von Hanau im Krieg und fühlte sich zur Vernichtung ganzer Völker berufen. Dies gipfelte in der grausamen Bluttat vom 19. Februar 2019 und 9 junge Menschen mussten sterben. 

Daher stehen wir heute hier und denken an:

Mercedes Kierpacz
Gökhan Gültekin
Sedat Gürbüz
Said Nesar Hashemi
Hamza Kurtović
Vili Viorel Păun
Fatih Saraçoğlu
Ferhat Unvar
Kaloyan Velkov

Im antifaschistischen und antirassistischen Kampf reicht es nicht, nur den Rassismus bei den anderen zu suchen. Wir müssen auch unsere eigenen Privilegien und Rassismen hinterfragen. So müssen wir uns auch selbst fragen, was mit uns passiert ist, wenn uns die Bilder und Nachrichten von Menschen, die auf der Flucht an den EU-Außengrenzen stranden, misshandelt, vergewaltigt und versklavt werden oder gar im Namen der EU-Grenzssicherung ins Meer geworfen werden und sterben, nicht mehr auf die Straße treiben.

Nein, wir müssen und dürfen keine Bilder „aushalten“, wie Herr Kretschmer es formulierte, wir müssen für allgemeingültig Menschenrechte und Menschlichkeit auf die Straße gehen.

Wir sind die Seebrücke Bochum, wir stehen für sichere Fluchtwege und gegen die Kriminalisierung von geflüchteten Menschen und der Rettungsorganisationen, wir stehen somit auch gegen Rassismus in jeder Form.

Gegen Rassismus stehen heißt auch:

Aufstehen für ein Ende der tödlichen Abschottung Europas! Für Solidarität mit Menschen auf der Flucht! Für Solidarität mit allen Menschen, die von Rassismus betroffen sind! Für eine Welt, in der Menschenrechte für alle gelten!

Kein Mensch ist illegal!