Sonntag 30.01.22, 17:57 Uhr

Wer geht eigentlich für Menschenrechte auf die Straße?


Für die SEEBRÜCKE Bochum hat Carla Scheytt gestern auf der Demonstration gegen die „Querdenker:innen“ einen Redebeitrag gehalten, in dem sie auf die Situation von Menschen auf der Flucht in Zeiten der Pandemie hingewiesen hat: »Wir stehen heute hier nicht aus einem schönen Grund. Es gibt nichts zu feiern. Seit zwei Jahren tobt auf der Welt eine Pandemie – und auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen nun Menschen, die diese Pandemie leugnen, antisemitische Verschwörungsmythen verbreiten und Faschos in ihren Reihen laufen lassen. Die Protestierenden gegen die Corona-Maßnahmen, die Querdenker*innen und Verschwörungsanhänger*innen behaupten, sie würden für Grund- und Menschenrechte demonstrieren. Und als heutige Sprecherin für die Seebrücke frag ich mich – wo sind diese Querdenkerinnen eigentlich, wenn wir wirklich für Menschenrechte auf die Straße gehen?

Richten wir also heute unseren Blick an die Außengrenzen der europäischen Union. Was sehen wir da? Wir sehen Menschen an der Grenze zu Polen. Hier wird aktuell auf der polnischen Seite ein Grenzzaun zu Belarus errichtet. Seit der Eskalation an der Grenze im September ebbt die Aufmerksamkeit für Menschen, die fliehen müssen, immer weiter ab. Errichtet wurde derweil eine Sperrzone. Aktivist*innen, Journalist*innen und selbst Ärzt:innen ist der Zutritt verboten und bei Verstoß droht Inhaftierung. Immer noch verstecken sich Menschen in den Wäldern, doch ihnen kann kaum geholfen werden. Mindestens 21 Menschen sind 2021 an der Grenze bereits verstorben und hunderte Menschen sind unterkühlt, entkräftet und verletzt.

Wir sehen Menschen an der Grenze von Kroatien und Bosnien. Hier versuchen Menschen seit Jahren vergeblich in die EU – also nach Kroatien – zu kommen. In den letzten beiden Jahren wurde mehrfach bewiesen, dass es an der Grenze immer wieder zu illegalen Pushbacks kommt. Selbst das Anti-Folter-Komitee des Europarats prangert die gewaltsamen Pushbacks in Kroatien an, schreibt von „schweren Misshandlungen“, Tritten, Schlägen, Schüssen: Der Bericht ist so brisant, dass Kroatien die Veröffentlichung verhindern wollte.

Und auch die Situation von Geflüchteten in Griechenland hat sich seit der Pandemie nicht verbessert. Familien und Kinder klagen über Hunger und Kälte weil ihnen Hilfsgelder der EU nicht rechtzeitig von der griechischen Regierung ausgezahlt werden. Die Situation in den Lagern ist weiterhin menschenverachtend. Und Hygienemaßnahmen, wie Händewaschen und Abstandhalten, sind in den überfüllten Lagern nicht durchzuhalten. Schutz vor Corona erhalten diese Menschen nicht.

Wir können weiterhin in den Nachrichten sehen, wie Menschen versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, um hier Schutz zu suchen. Wir können die Todeszahlen sehen, die NGOs immer wieder veröffentlichen. 2021 sind rund 2.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken; wahrscheinlich sind es mehr. Im Januar dieses Jahres sind es bereits 31 Menschen. Mindestens ein Menschenleben pro Tag.

Diese Liste ließe sich endlos weiterführen. Kabul, Calais, Ärmelkanal, kanarische Inseln, Libyen…

Pushback wurde dieses Jahr zum „Unwort des Jahres“ gekürt. Und während in Deutschland über das Für und Wieder von Masken und Tests diskutiert wird und sich Menschen trotz bester Gründe gegen eine Impfung entscheiden, wird weiterhin Frontex ausgebaut und die Abschottung Europas vorangetrieben.

Und was ist, wenn wir hier nach Deutschland und Bochum schauen? Wie ist die Situation von geflüchteten Menschen in der Pandemie hier vor Ort?

Die Stadt Bochum hat die Gesamtkapazitäten der Unterkünfte für geflüchtete Menschen seit Anfang 2020 um 620 Plätze zurück gebaut, sodass es – trotz Corona – eine Vollbelegung in den noch bestehenden Unterkünften gibt. Das ist das Gegenteil von Infektionsschutz.

Gab es am Anfang noch aufsuchende Kampagnen in den Unterkünften für Geflüchtete, hört man davon jetzt nichts mehr. Spezifische Impfkampagnen für Geflüchtete in Unterkünften? Fehlanzeige. Und das ist auch gerade so verheerend, weil viele dort lebende Menschen extra mit Johnson & Johnson geimpft wurden und ohne zweifache Auffrischung nicht über einen Impfschutz verfügen.

Auch in der Ausländerbehörde in Bochum läuft einiges schief. Seit Anfang der Pandemie türmen sich tausende nicht bearbeitete Anträge auf. Es gibt viel zu wenig Mitarbeiter*innen in der Ausländerbehörde. Betroffene berichten, dass sie über Monate keine Termine oder Rückmeldungen erhalten. Ihre Papiere werden nicht verlängert. Und Fristen zur Beantragung von Familiennachzug verstreichen und Arbeitsgenehmigungen laufen aus und kaum jemanden interessiert es.

Für Menschen ohne Papiere in Deutschland stellt die Pandemie ebenfalls ein großes Problem da. Wie gestaltet man sein Leben, wenn überall Kontrollen für 3G, 2G und 2G+ stattfinden und man selbst keinen Ausweis hat? Wie gelangen Menschen ohne Papiere an Impfungen und Booster? Was passiert mit ihnen, wenn sie sich anstecken?

Und trotz der Pandemie wurden auch Abschiebungen aus Deutschland nicht gestoppt. Es geht einfach weiter. In der Nähe vom Düsseldorfer Flughafen soll ein Abschiebegefängnis gebaut werden.

Was zeigt uns dieser Blick also, wenn wir auf die Situation von Menschen auf der Flucht schauen? Es zeigt: Wir müssen weiterhin für Menschen- und Grundrechte auf die Straße gehen.

Aber nicht so, wie die Menschen auf der anderen Straßenseite es tun. Wenn wir auf die Straße gehen, geht es nicht um die Durchsetzung einer „Freiheit“, die gleichzeitig andere Menschen und ihre Gesundheit bedroht. Wir werden niemals mit Faschos auf die Straße gehen und gemeinsam mit ihnen vermeintlich für Menschenrechte eintreten.

Nein, wir treten ein für eine solidarische Kritik an der Pandemiepolitik. Eine Politik in der die Schwächsten nicht bedacht, das eh schon ausgebrannte Gesundheitssystem weiter zugrunde geht und sich gleichzeitig Politiker*innen mittels korrupter Maskendeals die Taschen voll machen.

Wir sind wachsam, wenn Grundrechte eingeschränkt werden. Wir stehen hier in Solidarität mit allen jenen, denen die Pandemie geliebte Menschen genommen hat. Und wir stehen hier auch explizit für Menschen auf der Flucht, für welche die Pandemie eine weitere Verschlechterung ihrer eh schon prekären Lage ausmacht.

Das hier ist UNSERE rote Linie.

Vielen Dank an alle, die hier sind. Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit.«