Dienstag 17.08.21, 22:51 Uhr

Afghanistan – Redebeitrag von Amnesty International Bochum


Die Nachrichten und Bilder, die uns seit Tagen aus Afghanistan erreichen, machen sprachlos und wütend. Es macht mich wütend, zu lesen, es habe ja niemand ahnen können, dass die Taliban Afghanistan so schnell einnehmen würden. Ja, was hat man denn geglaubt, was passieren würde? Ein kurzer Blick in das Archiv von Amnesty International oder einer beliebigen anderen Menschenrechtsorganisation zeigt, dass die Situation in Afghanistan seit Jahren katastrophal ist. In kurzen Abständen warnte Amnesty International, dass nach Afghanistan Abgeschobene in Lebensgefahr schweben; dass Menschenrechtsverteidiger:innen ständig das Ziel von Anschlägen sind; dass überhaupt jeder zu jeder Zeit Gefahr läuft, als Zufallsopfer sein Leben zu verlieren.

Trotz der schlimmen Ausgangslage war klar, dass nach dem Abzug der US-Truppen eine weitere Verschlechterung zu erwarten war. Im besten Fall hätte es also noch ein paar Wochen oder Monate gedauert, bis die Evakuierung von Ortskräften und anderen bedrohten Personen so dringlich geworden wäre, wie sie es jetzt innerhalb von wenigen Tagen geworden ist.

Statt das vorhandene Zeitfenster für Evakuierungen zu nutzen, gingen noch bis vor Kurzem Abschiebeflieger nach Afghanistan. Und selbst als die Erkenntnis in der bundesdeutschen Politik reifte, dass man den Menschen helfen muss, die die deutsche Armee und deutsche Organisationen in Afghanistan unterstützt haben, entschloss man sich statt unbürokratischer Hilfe zu langatmigen Visaprozessen mit unsinnigen oder unerfüllbaren Bedingungen. Über die Priorität, Bier statt Menschen auszufliegen, ist bereits alles gesagt worden. Und wenn sich die Berichte bestätigen, dass ein deutscher Evakuierungsflug aus formalen Gründen nur sieben Menschen mitnehmen konnte, während ein US-Flugzeug mit mehr als 600 Flüchtenden randvoll beladen Kabul verließ, bleiben einem einmal mehr die Worte im Hals stecken.

Was steckt hinter dieser Ignoranz gegenüber dem erwartbaren Leid der afghanischen Zivilbevölkerung? Etwa die Hoffnung, dass die Taliban in Zukunft nur noch moderate Frauenunterdrückung betreiben, Ehebrecher:innen nur noch maßvoll steinigen und Kritiker nur noch gemäßigt umbringen? Zugleich diskutiert Deutschland und Europa wieder darüber, wie es sich vor unkontrollierter Migration schützen kann. Anstatt die vielbeschworenen humanitären Werte Europas hochzuhalten und entschlossen zu helfen, werden erneut Schutzsuchende als Bedrohung dargestellt. Dem stellen wir uns energisch entgegen, und deshalb bin ich froh, dass ihr heute hier seid!

Zu Beginn der Friedensverhandlungen mit den Taliban warnte Amnesty International, dass Frauenrechte keine Verhandlungsmasse sein dürften. Jetzt ist keinerlei Verhandlungsmasse mehr da, und das Einzige was Deutschland und anderen beteiligten Staaten noch bleibt, ist wenigstens das menschenmögliche zu tun, um das schlimmste Leid zu mindern.

Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, forderte daher gestern Regierungen in aller Welt auf, alle notwendigen Maßnahmen zur Evakuierung von Menschen einzuleiten, die von den Taliban bedroht sind. Zu diesen Maßnahmen zählen die Beschleunigung der Visaerteilung, die Unterstützung bei der Evakuierung über den Flughafen Kabul, Relocation- und Resettlement-Maßnahmen sowie die Aussetzung aller Abschiebungen und Zwangsrückführungen.

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, forderte die deutschen Bundesregierung auf, neben Ortskräften auch Journalist:innen, Frauenrechtler:innen und Menschenrechtsverteidiger:innen unbürokratisch zu schützen und zu evakuieren und kurzfristig breitere Aufnahmeprogramme einzurichten. Es ist allerhöchste Zeit.

www.amnesty-bochum.de