Dienstag 17.08.21, 22:44 Uhr

Afghanistan – Redebeitrag der Seebrücke Bochum


Mit Fassungslosigkeit, Wut, Trauer und Anteilnahme blicken wir nach Afghanistan. Gefährdet sind zur Zeit nicht nur die Ortskräfte des deutschen Einsatzes in Afghanistan. Insbesondere Frauen, Frauenrechtler*innen, Mitglieder der LGBTQIA Community, Demokrat*innen, Künstler*innen und viele weitere sind in Lebensgefahr. Die deutsche Bundesregierung darf nicht weiter zögern, sondern muss sofort handeln. Gerade werden die Menschen in Afghanistan im Stich gelassen. Wir haben fünf zentrale Forderungen!

Erstens. WIR FORDERN: Sofortige Evakuierung aller Ortskräfte und Partner*innen der Bundesregierung
Es ist ein Totalversagen der Bundesregierung, dass die ‚Ortskräfte‘ nicht schon vor Wochen aus Afghanistan evakuiert wurden. Es ist unklar, ob es überhaupt noch möglich sein wird, das Leben der Partner*innen der Bundesregierung zu schützen. Viele haben nicht mehr die Möglichkeit nach Kabul zum Flughafen zu gelangen ohne sich einer Lebensgefahr durch die Taliban auszusetzen. Die „Safe-Houses“, in der afghanische Ortskräfte kurzfristig von ehrenamtlichen Organisationen untergebracht wurden, wurden verlassen. Sie seien nur noch Todesfallen. Ein Evakuierungsflug der Bundesregierung am heutigen Morgen nahm nur maximal zehn Menschen mit. Und trotz dieser niederschmetternden Nachrichten: Wir fordern weiterhin eine sofortige Evakuierung aller Ortskräfte und Partner*innen. Ihr Leben muss geschützt werden.

Zweitens. WIR FORDERN: Aufnahmeprogramm für die Afghan*innen, die sich in den letzten Jahren für Frauenrechte, Demokratie und eine freie Gesellschaft eingesetzt haben
Wir fordern ein unkompliziertes, schnelles und direktes Aufnahmeprogramm sowohl vom Bund als auch von den Ländern. Hierzu gibt es unterschiedliche rechtliche Instrumentarien, die nun eingesetzt werden sollten. Bochum hat sich, wie 250 andere Kommunen in Deutschland, durch deutlichen Druck aus der Zivilgesellschaft 2019 zum sicheren Hafen erklärt. 250 Kommunen stehen deutschlandweit bereit, mehr Verantwortung zu übernehmen und Menschen aufzunehmen. Einige Bundesländer haben auch in der Vergangenheit bereits zusätzliche Aufnahmebereitschaft für geflüchtete Menschen signalisiert und Aufnahmeprogramme aufgesetzt. Es zeigt sich also: Es gibt die Möglichkeit und den erklärten Willen, Menschen zu evakuieren und aufzunehmen. Frauenrechtler*innen, Demokrat*innen, Angehörige der LGBTQI-Community, Künstler*innen, Journalist*innen, Kinder…All diese Menschen dürfen nicht im Stich gelassen werden.

Drittens. WIR FORDERN: Ermöglichung des Familiennachzugs zu afghanischen Geflüchteten nach Deutschland
Überall gibt es Hilferufe: Afghanische Menschen in Deutschland und auch aus Bochum fürchten um ihre Verwandten und Familie in Afghanistan. Sie sind verzweifelt, wissen nicht, wie es weiter gehen soll. Wir alle konnten den Nachrichten entnehmen, was die Herrschaft der Taliban für Frauen und Mädchen in Afghanistan nun bedeutet. Wir fordern deshalb eine schnelle und unbürokratische Möglichkeit des Familiennachzugs.

Viertens. WIR FORDERN: Sichere und legale Wege für alle Menschen, die vor den Taliban fliehen müssen
Wer nach Europa fliehen möchte, nimmt meist den eigenen Tod oder Gefahren für das eigene Leben in Kauf. Die europäische Union versucht mit aller Kraft durch illegale und gewaltsame Pushbacks und die Kriminialisierung der Seenotrettung Menschen auf ihrer Flucht aufzuhalten und die EU abzuschotten. Wir fordern ein Ende der tödlichen Fluchtrouten; wir befürchten einen drastischen Anstieg auf der Balkanroute, und eine weitere Verelendung von tausenden von Menschen, die nun nach Sicherheit suchen. Es muss die Möglichkeit geben, sicher nach Europa zu gelangen, um Asyl zu ersuchen. 
Wir werden uns nicht den rassistischen Narrativen ‚es darf kein 2015 mehr geben‘ anschließen. Und ich will die rassistischen und menschenverachtenden Äußerungen führender Politiker*innen hier auch nicht weiter wiederholen. Wir werden weiterhin gegen Fluchtursachen und für eine gerechtere und friedlichere Welt kämpfen. Und falls Menschen fliehen müssen – auch aufgrund von deutschen Waffen auf der ganzen Welt – dann werden wir an der Seite der Flüchtenden stehen. Das Recht auf Asyl ist keine ‚Bittstellung‘, kein ‚Heute wird es uns zu viel und wir stoppen das jetzt  mal‘ – es gibt für dieses Recht keine Obergrenze. Und am Ende wird auch keine Grenze dieser Welt, Menschen in Not daran aufhalten können, zu fliehen. Das Recht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Und deshalb muss es legale und sichere Fluchtwege für alle Menschen geben, die vor den Taliban fliehen.

Fünftens. WIR FORDERN: Aufenthaltssicherung und Bleiberecht für afghanische Menschen, die in Deutschland leben
Der stellvertretende Ministerpräsident des Landes NRW Joachim Stamp  von der FDP ist aktuell gegen einen formellen Abschiebestopp nach Afghanistan – selbst jetzt! Es ist  nicht zu fassen. Wir standen in den letzten Jahren als Antirassist*innen häufig an der Seite von Nedaje Afghan, einer selbstorganisierten afghanischen Geflüchtetengruppe am Düsseldorfer Flughafen, um gegen Abschiebungen nach Afghanistan zu demonstrieren. Aber keine Landesregierung, nicht unter CDU und FDP, aber auch nicht die Vorgängerregierung unter SPD und Grüne wollte einen solchen Abschiebestopp für NRW in den letzten Jahren beschließen. Trotz Proteste, trotz Warnungen!  Der Flüchtlingsrat NRW kritisiert die weiterhin restriktive Abschiebepraxis des Landes NRW nach Afghanistan. Wir schließen uns der Forderung des Flüchtlingsrates an, Abschiebungen nach Afghanistan (und sonstwohin) dauerhaft zu stoppen.  Aber ein Abschiebestopp allein ist nicht genug: Die Lage in Afghanistan hat sich in den letzten Wochen drastisch verändert. Es ist unklar, wie es in der kommenden Zeit aussehen wird. Aber eines ist sicher: Menschenrechte, Frauenrechte, Demokratisierungen, Partizipationsprozesse und Freiheit wird es unter der Herrschaft der Talbian nicht geben.  Afghanische Menchen, die in Deutschland leben, müssen deshalb ein Bleiberecht und eine Aufenthaltssicherung bekommen. Wir fordern gemeinsam mit dem Flüchtlingsrat Köln außerdem die sofortige Änderung der restriktiven Entscheidungspraxis des BAMF bzgl. afghanischer Asylsuchender.

Wir fordern also eine Luftbrücke, ein Sofortprogramm, Evakuierung, Aufnahme und Bleiberecht – und wir wissen gleichzeitig, dass es nur wenig Hoffnung für Afghan*innen gibt. Afghanistan ist laut Globale Peace Index das gefährlichste Land der Welt – und das schon vor den Entwicklungen der letzten Tage. Für ein Drittel der Bevölkerung in Afghanistan ist die Lebensmittelversorgung nicht mehr sicher gestellt. Was können wir tun? Wir können Druck erzeugen und aufrecht erhalten, die Menschen vor Ort nicht im Stich zu lassen. Wir können für die Aufnahme eintreten. Wir können an Hilfsorganisationen spenden. Und wir können afghanischen Freund*innen und Bekannten, ein offenes Ohr anbieten und sie versuchen, zu unterstützen.
Vielen Dank, dass ihr hier seid.

www.seebruecke-bochum.de