Samstag 27.03.21, 20:54 Uhr
Redebeitrag auf der Mahnwache der Seebrücke am 27. März 2021

Zur Situation der Migrant*innen auf den Kanarischen Inseln


Zurzeit sind viele Menschen über den Atlantik auf die kanarischen Inseln geflohen. Sie suchen auf den spanischen Inseln Schutz und Asyl – haben dafür eine tödliche Fluchtroute in Kauf genommen. In der Öffentlichkeit wird wenig über die Situation auf den kanarischen Inseln berichtet – Beobachter*innen befürchten, dass auf den Kanaren bald ein zweites „Moria“ entstehen könnte. Wir wollen deshalb heute auf die Situation vor Ort aufmerksam machen!

Zahlen:

Die Andalusische Vereinigung für Menschenrechte (APDHA) hat einen Anstieg von 29% in der Zahl der Menschen festgestellt, die versucht haben, Spanien irregulär über die südliche Zone zu erreichen. Diese Zone umfasst die die Kanarischen Inseln, die Balearen, die Südküste der Halbinsel, Ceuta und Melilla.

Im Jahr 2020 sind es insgesamt 41.861 Migranten (im Vergleich zu 32.513 im Jahr 2019). Davon zählt der Bericht etwa 23.000 Ankünfte auf den Kanarischen Inseln, zehnmal mehr als im Jahr 2019.

Von den rund 23.000 afrikanischen Migrant*innen, die 2020 auf den Von den rund 23.000 afrikanischen Migrant*innen, die 2020 auf den Kanarischen Inseln angekommen sind, sollen 10.000 abgeschoben werden. Im Jahr 2021 sind Anfang März bereits 2300 Menschen angekommen. Die Ankunft von Minderjährigen hat dramatisch zugenommen: Allein auf Teneriffa sind es 2.000 (9.000 Erwachsene). Auf Gran Canaria stieg die Zahl von 500 auf 2.380, eine Steigerung von mehr als 300 %. Diese Migrant*innen, vor allem die jüngeren, wollen studieren, arbeiten und in anderen Ländern das erreichen, was ihnen durch Armut und Gewalt vorenthalten wurde.

Faktoren für den Anstieg der geflüchteten Menschen:

Viele Faktoren haben die Migrationsentwicklung an der südspanischen Grenze in nur einem Jahr verstärkt: der Verlust der Lebensgrundlage für junge Menschen in Nordafrika und die Sahelzone durch die Pandemie, die von der EU an Marokko gezahlte Blockade der Straße von Gibraltar oder die Blockade durch den marokkanischen Konflikt in der Westsahara. Durch den Hauptgrenzposten in der Westsahara zu Mauretanien, Guerguerat, ist die Atlantikroute geschlossen. Die Andalusische Vereinigung für Menschenrechte (APDHA) empört am meisten, dass die Regierung ihre Vereinbarung über die Investition in die Schaffung legaler und sicherer Fluchtrouten für Migranten nicht eingehalten hat. Die Aufrechterhaltung der restriktiven Maßnahmen treibt die Einwanderer in die Boote auf die deutlich gefährlichere und tödlichere Kanarenroute. Sie befürchtet, dass viele Senegalesen, Gambier und Guineer auf die zentralafrikanische Route nach Algerien ausweichen und aufgrund der dortigen politischen, sozialen und gesundheitlichen Krise von dort ebenfalls Menschen fliehen.

Im Jahr 2020 hat die Andalusische Vereinigung für Menschenrechte die höchste Anzahl an Todesfällen registriert, seit Beginn der Aufzeichnungen Anfang der 1990er Jahre: 1.717 Tote gezählt: 637 gefundene Leichen und 1.080 Vermisste.

Rolle der EU:

Die Europäische Union geht bei ihrer Migrationspolitik davon aus, dass Einwanderung etwas Negatives ist. So werden Drittstaaten, durch welche die Migrationsrouten führen wie Marokko oder die Türkei, dafür bezahlt, diese Menschen an der Weiterreise nach Europa zu hindern. In vielen Fällen werden dabei eklatante Menschenrechtsverletzungen begangen. Auf der anderen Seite werden diejenigen, die es geschafft haben, ihre Reise fortzusetzen, auf den Grenzgebieten der EU-Inseln festgehalten, wie auf Lampedusa, Lesbos oder jetzt auf den Kanarischen Inseln.

Erst vor wenigen Monaten hat die Europäische Kommission ihren Vorschlag für einen neuen Europäischen Pakt zu Migration und Asyl vorgelegt. Dieser sieht eine Vertiefung der derzeitigen Politik der Militarisierung der Grenzen vor. Es mangelt an Solidarität zwischen den Ländern.

Flucht:

Die Migrant*innen, meist vom afrikanischen Kontinent, beschreiben die Reise auf die Kanarischen Inseln als „kompliziert“. Mehr als 10 Tage Fahrt unter extremsten Bedingungen und in behelfsmäßigen, dem Meer trotzenden Booten. Sie riskierten alles für ihren Traum von Europa und einem halbwegs stabilen Leben, um Europa über Routen zu erreichen, von denen die kürzeste 100 Kilometer Gefahren birgt.

Einer von ihnen ist Moussa Djob, der im November 2020 auf die Kanaren geflohen ist. Der 27-jährige Student stammt aus Joal-Fadiouth, einem senegalesischen Fischerdorf. Ende Oktober waren er und sein Bruder zusammen mit den anderen Senegalesen an Bord des Fischerkahns gestiegen. Nach einer Woche auf dem Atlantik waren Benzin, Wasser und Essen aufgebraucht. Eine weitere Woche trieben sie auf dem Meer. Er erzählt: „Während der letzten sieben Tage hatten wir weder Wasser noch etwas zu essen. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben. Wir haben diese sieben Tage nur überlebt, indem wir Meerwasser getrunken haben.“ Etwa 60 Kilometer vor El Hierro, als die jungen Senegalesen dachten, sie würden sterben, sahen sie plötzlich ein Frachtschiff. Aus leeren Benzinkanistern bauten sie ein Kanu und rissen Holzplanken von ihrem brüchigen Kahn als Ruder ab. Sieben Menschen kletterten auf das Kanister-Kanu und paddelten mit letzter Kraft, um das Frachtschiff auf sich aufmerksam zu machen. „Diese sieben Personen haben ihr Leben für uns alle riskiert. Sie hatten nichts zu trinken oder zu essen und waren schon mit ihren Kräften am Ende. Und sind dann noch 15 Kilometer gerudert, bis das Frachtschiff sie gesehen hat und die Küstenwache gerufen hat. Wenn sie das nicht geschafft hätten, wären wir alle gestorben.

Papiere:
Es wurden von den 23.000 afrikanischen Migrant*innen, die ankamen, nur 3.984 Anträge auf internationalen Schutz formalisiert. Sie machen nur 8,6 % der Gesamtmenge aus. Am zahlreichsten sind die Malier mit 189 Bewerbungen, da sich in ihrem Land seit 2012 Konflikte und Terrorismus in immer mehr Gebieten ausbreiten. Mehr als 90% der auf den Kanarischen Inseln gestellten Anträge kommen von Lateinamerikanern, die mit dem Flugzeug eingereist sind.

Der Zugang zum Asylverfahren auf den Kanarischen Inseln, wie auch in anderen Teilen Spaniens, ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Die UNHCR beklagt, dass es nicht genügend Asylkapazitäten und Ressourcen gibt: Eigentlich sind öffentliche Anwälte dafür zuständig, die Migrant*innen über ihre Rechte zu beraten. Aber in den Monaten des größten Zustroms von Booten gibt es keine Rechtshilfe mehr. Nur wenige Anwält*innen sehen ihre Klient*innen persönlich. Sie beschränken sich darauf, die Rückgabeanordnungen auf der Polizeistation zu unterschreiben und die Dienstleistung in Rechnung zu stellen. Oder es sind zwar Anwält*innen für eine individuelle Beratung verfügbar, es steht teilweise für 200 Personen jedoch nur ein Dolmetscher*in zur Verfügung. Die Anwält*innen sind oftmals nicht auf Asylrecht spezialisiert. Die wenigen Dolmetscher*innen sprechen oft nicht die gleichen afrikanischen Sprachen wie die Antragstellenden. Die Situation hat sich nach einer Denunziation der Zustände durch die Zeitung EL PAÍS und den Sender SER zwar verbessert, ist aber immer noch mangelhaft.

Spanien ist durch verschiedene internationale Abkommen verpflichtet, seinen Behörden (der Polizei, den Richtern oder Staatsanwälten) die Mittel zur Verfügung zu stellen, um diese gefährdeten Profile zu identifizieren, sie über ihr Recht auf Asyl aufzuklären und ihnen den Zugang zu internationalem Schutz zu erleichtern, vor allem, wenn ihnen eine Abschiebungshaft droht. -Spanien kommt dem nicht nach!

Dies zeigt der Fall des Albino-Maliers, der im September in einem Abschiebegefängnis landete, ohne dass jemand bemerkte, dass ihn sein Zustand in seinem Land das Leben kosten könnte. Auch die der Dutzenden von Maliern, die zwischen Mitte 2019 und Anfang 2020 nach Mauretanien abgeschoben wurden und die angaben, dass sie von ihrem Recht, Asyl zu beantragen, nichts wussten.

Der Ombudsmann hat bereits sowohl die Generaldirektion der Polizei als auch den Staatssekretär für Migration um Erklärungen über „die mangelnde Erkennung von besonders gefährdeten Profilen“ gebeten, darunter auch von Personen, die internationalen Schutz benötigen. Die UNHCR beschloss ihrerseits, ein Team auf den Kanarischen Inseln einzusetzen, um die Behörden bei der Verbesserung der Identifizierung potenzieller Flüchtlinge und deren Zugang zum Verfahren zu unterstützen.

Katastrophal ist auch die Lage in den vom Roten Kreuz betriebenen Aufnahmehotels: Die Organisation hatte nur insgesamt vier Anwälte auf zwei Inseln, um den 23.000 Menschen im Jahr 2020 rechtlichen Beistand zu leisten. In den Hotels bekommen die Menschen oftmals gesagt, dass man nicht zuständig sei für Asylanträge, oder sie werden für die Antragsstellung auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet.

Das Rote Kreuz räumte am 9. Februar im Senat selbst ein, dass eine seiner „größten Sorgen“ die Schwierigkeiten beim Zugang zum Verfahren auf den Inseln sei. Das Haupthindernis sei die Schwierigkeit für Migranten, ihren Wunsch nach Asyl bei einer Polizeistation zu registrieren. Zwar stimme sich das Rote Kreuz mit der Polizei sehr gut zur Erledigung der Formalitäten ab. Durch den hohen Andrang und zu wenig verfügbare Termine würden der Zugang und die Ausstellung der entsprechenden Dokumente verzögert.

Selbst wenn die Menschen Unterstützung bei der Antragsstellung bekommen durch NGOs oder engagierte Privatleute, scheitern sie oft bei der Registrierung in der Polizeistation: Dort gibt es häufig keine Dolmetscher*innen oder keine ausreichenden Ressourcen, um ihnen zu helfen.

Die Langsamkeit und schlechte Organisation der Transfers zum Festland hat laut der spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR) auch dazu geführt, dass die Migranten es vermeiden, auf den Inseln Asyl zu suchen. NGOs und die Migranten selbst prangern Versäumnisse der spanischen Behörden an, die oft die Ausschiffung unter unmenschlichen Bedingungen verzögern, wobei Überfüllung nicht das Schlimmste ist, was dort passiert. Sie erinnern sich noch an die Zeit, als einer der Docks das behelfsmäßige Warteheim für 2.000 Menschen war. Es erhielt den Spitznamen „das Dock der Schande“. Oftmals dürfen sie nicht aufs Festland weiterreisen, selbst wenn sie gültige Papiere haben.

Wenn man nur die Zahlen der Asylstatistiken in Spanien betrachtet, erhält man ein unvollständiges Bild: Sie spiegeln nur die formalisierten Anträge wider, also die, bei denen der Interessent bereits ein Gespräch mit der Polizei geführt hat, in dem er begründet, warum er Schutz sucht. Aber von der Äußerung des Asylwunsches bis zur Anhörung können Monate vergehen, so dass die Statistik immer eine zeitliche Verzögerung aufweist. Auf den Kanarischen Inseln gibt es eine unbestimmte Zahl von Personen, die nach den befragten Quellen über tausend betragen könnte, die trotz aller Hindernisse ihren Wunsch, Schutz zu suchen, bei der Polizei angemeldet haben. Diese Anfragen bleiben in der Statistik jedoch unberücksichtigt.

Fristen sind ein weiteres Hindernis: Obwohl die meisten Vorstellungsgespräche für Mitte bis Ende dieses Jahres angesetzt sind, hat EL PAÍS Termine für Anhörungen für Dezember 2022 gesehen. Nach Angaben der Polizei wurde das Angebot an Terminen bereits verstärkt. Es soll zusätzliches Personal in Asylangelegenheiten geschult werden, um die Fristen zu verkürzen.

Abschiebung:

Situation in den Lagern:

Die spanische Regierung hat angekündigt, Migrant*innen abzuschieben, die nicht aus Kriegsgebieten kommen.

Das gilt vor allem für Menschen aus Nordafrika, aber auch für Senegalesen, da beide Länder schon ein Abkommen unterzeichnet haben. Migrant*innen aus dem Senegal sind vor allem in Las Raíces auf Teneriffa untergebracht.

Statt auf sicherere Fluchtrouten setzt die spanische Regierung auf Repression, Verletzung der Menschenrechte und Kriminalisierung.

Es gibt auf den Inseln Flüchtlingslager, in denen die Menschenwürde mit Füßen getreten wird. Im Lager Las Raíces kam es durch den schlechten Zustand des Essens, bedingt durch das minimale dafür verfügbare Budget, bei 15 Menschen zu Vergiftungserscheinungen. Es ist nicht bekannt, wie viele Menschen mit COVID infiziert sind. Es gibt wenig oder keine medizinische Versorgung. Die Lager sind schlecht ausgestattet und bieten keinen Schutz vor Kälte. Dies alles führt zu Protesten außerhalb und innerhalb des Lagers und zu zeitweiligen Hungerstreiks. Ein Klima der Überfüllung, der Spannung, das früher oder später das Leben von Menschen gefährden kann, die allein aufgrund ihrer Fluchtsituation und der Konflikte in ihren Herkunftsländern verletzlich sind.

Ein Zeichen der Hoffnung, der Würde und des Mutes von den Menschen selbst gesetzt, die weiterhin sowohl außerhalb (im Protest) als auch innerhalb der Einrichtungen Widerstand leisten, sowie von Aktivist*innen, Nachbarn und auch Künstler*innen, die täglich an den Ort reisen, um ihre Solidarität zu zeigen.

Aus Angst vor der Abschiebung sind bereits viele Menschen aus den Flüchtlingslagern geflohen. Wer einmal freiwillig aus einem staatlichen Quartier auszieht, die als „Abschiebelager“ gelten, darf nicht mehr zurückkehren. Ihnen bleibt nur die Straße. 300 bis 400 Geflüchtete leben laut Aussage eines Sozialarbeiters allein in Gran Canaria auf der Straße.

Proteste in Lagern:

Anfang März fand im Lager Las Raíces in Teneriffa eine massive Demonstration statt, bei der Geflüchtete, Nachbar*innen und Aktivist*innen forderten, die drängendsten Probleme unverzüglich zu lösen, dieses Flüchtlingslagers endgültig zu schließen und ein menschenwürdiges Aufnahmesystem einzurichten, um den freien Transit von Migrant*innen afrikanischer Herkunft nach Europa nicht weiter zu behindern.

Stimmung in Bevölkerung:

Die Reaktion der Einheimischen ist nicht die beste: Es kommt zu rechter Stimmungsmache gegen die Migrant*innen. Mehrmals haben sie gegen die Unterbringung dieser Flüchtlinge in Hotels protestiert, mit dem Argument, dass ihre Anwesenheit die Insel für Touristen unattraktiv macht. Aber nicht alle Einheimischen denken so… einige sind sich bewusst, dass diese Menschen Opfer sind und Hilfe brauchen.
Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Inseln sowie ihre Institutionen und sozialen Organisationen haben sich dagegen ausgesprochen, dass die Kanarischen Inseln in ein Gefängnis verwandelt werden. Sie wollen ein einladendes Territorium sein und nicht Teil einer Politik der Militarisierung der Grenzen und der Verletzung der Menschenrechte, die den Positionen der extremen Rechten entspricht.

Forderung:

Wir fordern:

…dass die Menschen sofort aus den Lagern evakuiert werden und Zuflucht an einem sicheren Ort finden,

…dass Vereinbarungen zur Schaffung von legalen und sichereren Fluchtrouten eingehalten werden, um weitere Todesfälle zu verhindern,

…dass die Polizei dazu aufgefordert wird, ihrer Aufgabe nachzukommen, die Menschen über ihr Recht auf Schutz durch Asyl aufzuklären, und Konsequenzen gezogen werden, wenn dies nicht passiert,

…dass allen Schutzsuchenden die Antragsstellung und Registrierung des Antrags ermöglicht wird, das heißt:

Dass mehr Anwält*innen eingestellt werden und ausreichend qualifiziert sein müssen,

Dass mehr Dolmetscher*innen eingesetzt werden und Dolmetscher*innen für alle benötigten Sprachen bereitgestellt werden.

Quellen:

https://elpais.com/espana/2021-02-28/canarias-refugiados-sin-refugio.html

https://elpais.com/espana/2021-03-22/el-gobierno-mantiene-politicas-migratorias-restrictivas-e-incumple-su-acuerdo-de-vias-legales-y-seguras.html

https://www.france24.com/es/la-selecci%C3%B3n-de-arte-en-espa%C3%B1ol/20210301-arte-canarias-migraci%C3%B3n-africa-espa%C3%B1a

https://www.canarias7.es/canarias/gran-canaria/pacto-migracion-asilo-20210221225647-nt.html