Samstag 27.03.21, 21:23 Uhr
Redebeitrag auf der Mahnwache der Seebrücke am 27. März 2021

Moria und die Lager in Griechenland – Schandfleck für die Europäische Union


Auf den griechischen Inseln, u.a. Lesbos, Chios und Samos werden in „Hotspots“ genannten Lagern über 14.000 Menschen festgehalten, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten. Jahrelang werden sie hier festgesetzt und daran gehindert, einen sicheren, menschenwürdigen Aufenthalt in der reichen EU zu erlangen und eine Zukunftsperspektive für ihr Leben zu entwickeln. In diesen Lagern herrschen so katastrophale Zustände, wie sie die meisten unserer Mitbürger*innen nicht einmal ihren Haustieren zumuten würden.

Zum Beispiel das Lager Moria auf Lesbos:

Nachdem das frühere Lager – ausgelegt für 3.000 Menschen und belegt mit 20.000 Personen im September 2020 abgebrannt war, mussten die Geflüchteten zunächst im Freien kampieren. In vielen Städten, auch in Bochum, gab es im September große Demonstrationen, die ein Ende des Lagersystems forderten. Und man hoffte, dass nun endlich eine menschenwürdigere Lösung für sie gefunden würde. Politiker*innen versprachen, dass es kein zweites Moria geben wird.

Aber entgegen all der Versprechen, wurde stattdessen ein neues Zeltcamp für sie errichtet: Kara Tepe, auf einem ehemaligen, mit Bleimunition verseuchten Militärgelände, nahe der Meeresküste und ständig Wind, Regen und heftigen Stürmen ausgesetzt, die die Zelte fortzureißen drohen und destabilisieren. Ohne Möglichkeit der Beheizung bildet sich in den Zelten Schimmel und bei Regen versinken sie in Schlamm und Müll.

Überhaupt sind die hygienischen Bedingungen – vor allem unter Coronabedingungen- extrem gesundheitsgefährdend: Es gibt kaum fließendes Wasser, die Menschen müssen sich an oft improvisierten Wasserstellen oder Eimerduschen im Freien in der Kälte waschen, denn viel zu viele Menschen müssen sich viel zu wenige Sanitäranlagen teilen. Die Stromversorgung ist ebenfalls nicht gewährleistet, Verteilerstationen im Freien mit heraushängenden Kabeln stellen eine ständige Gefährdung dar, die Zelte bleiben ohne Elektrizität. So sind die Bewohner meist gezwungen, sich Mahlzeiten auf offenem Feuer zuzubereiten, ganz abgesehen davon, dass auch die Nahrungsmittelversorgung unzureichend ist.

Krätze und andere Krankheiten breiten sich aus. Von einem ausreichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung kann nicht die Rede sein, obwohl Hilfsorganisationen wie MSF vor Ort versuchen ihr Bestes tun. Schulische Bildung oder Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche: Fehlanzeige.

Ein solches Camp ist kein erträglicher Aufenthaltsort für Menschen, und für die hier lebenden etwa 2.500 Kinder erst recht nicht. Ärzte ohne Grenzen berichtet davon, dass Kinder Suizidgedanken äußern, dissoziieren oder einfach nicht mehr sprechen.

Die Bewohner werden nach dem Trauma einer oft lebensgefährlichen Fluchterfahrung hier erneuter, oft jahrelanger Traumatisierung ausgesetzt.

Wegen der Pandemie ist den Bewohnern jede Bewegungsfreiheit entzogen, sie bleiben hier eingesperrt, nur Arzt- oder Behördentermine gelten als Ausnahme von der strikten Ausgangsperre.

Journalist*innen ist der Zugang zum Lager verboten. Das von Hilfsorganisationen betreute Camp Pikpa, indem besonders vulnerable Personen wie kranke oder behinderte Menschen und Wöchnerinnen mit Neugeborenen lebten, wurde Ende Oktober rücksichtslos aufgelöst und die Bewohner*innen nach Kara Tepe verfrachtet.

Ein Bewohner, Abdul aus Afghanistan schildert, dass den ganzen Tag über das Weinen von Kindern und Babys zu hören ist und er richtet folgenden Appell an die EU: „Bitte holt wenigstens die Kinder von hier weg, spielt nicht mit ihrem Leben! Nehmt wahr, dass viele Geflüchtete gebildet, talentiert und motiviert sind. Sie können viele Dinge tun, haltet sie nicht in dieser Hölle fest. Sondern gebt ihnen die Freiheit, damit sie gute, sinnvolle Dinge tun können!“

Bereits 2018 sagte selbst Entwicklungsminister Müller (CSU) nach einem Besuch im früheren Lager in Moria: „Das ist kein Flüchtlingscamp. Das ist ein Gefängnis. Flüchtlinge werden eingepfercht wie Verbrecher.“

Doch warum wird ein früheres unerträgliches Provisorium auf Lesbos durch ein noch fürchterlicheres ersetzt, anstatt eine angemessene Lösung zu suchen und zu finden?

Deshalb, weil das System der „Hotspots“ als Unterbringungsort für Geflüchtete das systematische und politisch gewollte Migrationskonzept der EU ist. Durch solche Zustände soll die Abschottungspolitik zementiert und Flüchtende sollen abgeschreckt werden.

Denn den hier Gestrandeten wird ein zügiges Asylverfahren verwehrt – das Asylrecht ist von Griechenland sogar zeitweise ganz ausgesetzt – sondern sie werden zu „Illegalen“ oder „irregulären Flüchtlingen“ erklärt und sollen auf Grundlage des EU-Türkei-Pakts abgeschoben werden. Hier und in den anderen Hotspots gelten sie nicht mehr als Menschen unter Schutzstatus, sondern unterliegen dem sogenannten „Zulässigkeitsverfahren“, bei dem es nur um die Möglichkeit einer Abschiebung, entweder in die Türkei, ein Transitland der Fluchtroute oder in die Heimatländer, geht.

Das bedeutet, dass diese Hotspots quasi die Funktion von Abschiebezentren haben und Schutzsuchenden den Weg zu einem sicheren Aufenthalt in der EU versperren sollen. Das europäische Asylsystem ist also zu einem Asylverhinderungssystem geworden. Damit werden sowohl das EU-Recht, die EU-Grundrechtscharta, die Genfer-Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention missachtet und verletzt, indem Geflüchteten das Selbstbestimmungsrecht sowie das Recht auf ein ordnungsgemäßes Asylverfahren genommen werden. Auch über Urteile des Europäischen Gerichtshofs, der „Push-Backs“ verboten hat (wie im übrigen auch bereits 2012 die Kollektivabschiebungen nach Libyen) wird sich hinweggesetzt.

Wir prangern an:

Auf dem Territorium der EU wurde eine „Herrschaft des Unrechts“, konsequenter Unmenschlichkeit und rechtswidriger Schamlosigkeit errichtet. Selbst der Vorwurf unterlassener Hilfeleistung erscheint hier noch zu milde. Sowohl die unzumutbaren Lebensbedingungen als auch der Zustand der Rechtlosigkeit haben Methode.

Denn alles geschieht mit Wissen und aktiver Beteiligung nicht nur der EU-Behörden, sondern auch der deutschen Bundesregierung. So lobte Kommissionspräsidentin von der Leyen Griechenland als „Schutzschild Europas“ – ein kaum zu überbietender und menschenverachtender Zynismus angesichts der dort herrschenden Zustände.

Das BAMF, das zeitweise die überlasteten oder zeitweise untätigen griechischen Asylbehörden unterstützt, hat vielen Personen die ihnen gemäß Dublin- Verordnung zustehende Familienzusammenführung blockiert – auch dies eine Missachtung geltenden Rechts. 

Deutschland beteiligt sich mit finanziellen und personellen Mitteln am unheilvollen Wirken der hier zuständigen Grenzagentur Frontex (momentan mit insgesamt 1200 bewaffneten Frontexpolizisten), denn laut Frontexverordnung sind alle hierhin Geflüchteten ab dem Moment ihres Ankommens dieser unterworfen.

Inzwischen ist bekannt, dass Frontex Gewaltanwendung der griechischen Grenzpolizei nicht verhindert. Mindestens ein Mensch ist an der griechisch-türkischen Grenz durch Schusswaffengebrauch zu Tode gekommen, Tränengas wurde gegen Schutzsuchende eingesetzt. Durch Push-Backs werden Flüchtende davon abgehalten, die Küste zu erreichen und in seeuntauglichen aufblasbaren Rettungsplattformen ohne Motor wieder hinaus in Ägäische Meer getrieben. Frontexsoldaten sehen tatenlos zu und bisher konnte der Verdacht sogar der Beteiligung von Frontex noch nicht vollständig ausgeräumt werden, zumindest jedoch muss von bewusster Vertuschung von schwerwiegenden Menschenrechtsverstößen durch Frontex ausgegangen werden. Offenbar wird hier versucht, die Ägäis zu einer ebensolchen Todesfalle werden zu lassen wie das westliche Mittelmeer.

Die Aufrüstung des sogenannten europäischen Grenzschutzes mit polizeilichen und militärischen Mitteln ist in vollen Gange. Davon zeugen nicht nur die geheimen Treffen von Frontex-Chef Leggeri mit Waffenlobbyisten, sondern auch die Ausrüstung mit Hubschraubern, Drohnen und moderner Überwachungstechnik sowie die Beendigung aller Seenotrettungsmissionen der EU.

In diesem Jahr soll das Budget von Frontex auf 1,6 Milliarden Euro ansteigen und langfristig sollen 10 000 Frontex-Polizisten beschäftigt werden. Griechenland selbst baut eine auf 27 km Länge und 5 Heter Höhe geplante Mauer an der Festlandgrenze zur Türkei, zusätzlich zu den bereits verlegten Tausenden Kilometern Stacheldraht hier und an anderen europäischen Grenzen.

Gerne wird der Ausbau des sogenannten Grenzschutzes gerechtfertigt mit der Absicht, kriminelle Schlepper und Schleuser zu bekämpfen. Jedoch gefährdet der Einsatz quasi militärischer Maßnahmen lediglich die Flüchtlinge. Eine wirksame Gegenmaßnahme kann nur sein, alternative legale Einwanderungswege nach Europa zu eröffnen, damit Menschen geschützt werden – und nicht Grenzen.

Wir fordern:  

Diese Hotspots, die in Wirklichkeit Haftlager sind und Schutzsuchende aller Rechte berauben, müssen aufgelöst werden. Kein Mensch ist illegal oder irregulär.

Menschenrechte und Menschenwürde sind unveräußerlich, gelten für alle Menschen und dürfen von der sich auf „europäische Werte“ berufenden EU nicht länger mit Füßen getreten werden.

Hunderte Städte in Deutschland haben sich zu sicheren Häfen erklärt und zur Aufnahme von Flüchtlingen bereit erklärt. Diese Städte werden daran gehindert, Menschen aufzunehmen, indem

Wir wissen, dass Deutschland sich zur Aufnahme von 1553 Geflüchteten aus Moria bereit erklärt hat – doch das sind nicht genug, solange Tausende ihrem Schicksal überlassen werden. Zeitungsmeldungen wie „50 Kinder in Deutschland gelandet“ klingen wie ein Hohn und heuchlerische Symbolpolitik. Mit solchen Alibiaktionen dürfen wir uns nicht zufriedengeben, denn ein grundlegender Wechsel zu einer humanen Migrationspolitik ist notwendig.

Auch das inzwischen schon jahrelange Verweisen und Warten auf eine „europäische Lösung“ als Voraussetzung für eine Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland, wie wir es von Seehofer und anderen Politikern hören, kann man nur als faule Ausrede betrachten, die wir nicht mehr akzeptieren können.  Denn es ist klar, dass es diese europäische Lösung zeitnah nicht geben wird – und wenn, dann nur in einer Fortsetzung und Verfestigung all dessen, was die „Festung Europa“ verstetigt.

Von einer „europäischen Lösung“ gibt der geplante Migrationspakt schon einen Vorgeschmack: Staaten, die sich weigern, Geflüchtete aufzunehmen, dürfen sich mit sogenannten „Rückführungspatenschaften“ um die das üble Geschäft der Abschiebung verdient machen. Wortwahl und Idee machen klar, dass es bei diesem Pakt vor allem um effizientere Migrationsabwehr und Abschottung geht. Vorprüfungs- und Screeningverfahren innerhalb weniger Wochen in den Lagern sollen beschleunigte Abschiebungen ermöglichen – unter Missachtung des individuellen Rechts auf Asyl und ohne Rechtsschutz der Betroffenen.

Wir müssen verhindern, dass solchen teuflischen Pläne Wirklichkeit werden!