Mittwoch 06.05.20, 12:03 Uhr

75 Jahre danach:
Befreien müssen wir uns selber 1


Von Ralf Feldmann

Vor 75 Jahren im April befreiten amerikanische Soldaten Bochum, am 8. Mai war das nationalsozialistische Deutschland endgültig besiegt. Abermillionen Menschen waren den Mörderbanden des deutschen Faschismus und der Vernichtungswut der Wehrmacht zum Opfer gefallen. Deutsche Soldaten hatten die Nachbarvölker überfallen, dabei den Weg zum Holocaust bereitet und schlimmste Verbrechen selbst begangen. Soldaten der Alliierten waren zu Millionen für die Befreiung Europas vom Faschismus gestorben. Die Notwehr der Angegriffenen hatte Millionen von Deutschen das Leben gekostet. Millionen von Zwangsarbeitern, aber nur noch eine halbe Million Menschen in den Konzentrationslagern waren – oft dem Tod nahe – befreit worden, auch in Bochum.
Große Teile der Nazi-Gauhauptstadt Bochum lagen in Trümmern. Die meisten hier fühlten sich erleichtert, den Krieg überlebt zu haben: besiegt, nicht befreit. Scham und Reue wuchsen nur langsam. Dass auch sie, nicht nur die Verfolgten und Gequälten, befreit worden waren – aus den Verbrechen ihrer Gesellschaft, diese Einsicht blieb vielen verschlossen.

Im Gegenteil: Entnazifizierung empfanden sie bald als Zumutung. Bürgerliche Parteien, gerade auch im Ruhrgebiet, öffneten sich für Naziverbrecher, mit ihnen gemeinsam erhoben sie die Forderung nach Generalamnestie aller Nazi- und Kriegsverbrechen. Funktionseliten des Nationalsozialismus bis hin zu hochbelasteten Tätern gelang der Wiedereinstieg in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, sogar in Spitzenpositionen und hohe Staatsämter. Verteidigung des Kapitalismus war die gemeinsame Staatsräson von Altnazis und Konservativen. Generale der Wehrmacht bauten die Bundeswehr auf. Die mit Nazipersonal durchsetzte Justiz wehrte eigene Schuld ab, weigerte sich lange, die Verbrechen zu ermitteln und zu bestrafen, setzte auf Verjährung. Die Gesellschaft formierte sich nach rechts. Aufarbeitung, Trauerarbeit, „Erinnerungskultur“ begannen erst, als die Tätergeneration abgetreten war.

Rechtes Denken und rechte Gewalt blieben und wachsen wieder. Seit 1990 sind über 200 Todesopfer rechter Gewalt zu beklagen. Muslime müssen, genauso wie Juden wieder, um ihr Leben fürchten. Der NSU, jüngst die Anschläge in Halle und Hanau sind Spitzen des Eisberges. Neue Terrorgruppen bilden sich im Untergrund. Die geistigen Brandstifter haben in unseren Parlamenten Fuß gefasst. Ihre Vorhut in der AfD bezeichnet die Nazibarbarei als „Vogelschiss unserer Geschichte“, das Mahnmal der Erinnerung an den Holocaust als „Schande“, ist „stolz auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“, fordert „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ und sieht dabei „als großes Problem, dass man Hitler als das absolut Böse darstellt“. Wer sich so äußert, ist nach Selbsteinschätzung der AfD nicht rechtsextrem, sondern „Mitte der Partei“.

Das alles schreckt nicht ab, sie zu wählen. In Bochum erzielten Rechtsparteien bei der Europawahl insgesamt 9,8%. Im Rat der Stadt hat die AfD drei Sitze, die NPD zwei.

Die demokratischen Kräfte, die überlebt hatten, schworen vor 75 Jahren: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Und vier Jahre später begann das Grundgesetz mit dem Leitmotiv: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Der Blick auf die reale Verfassung unserer Gesellschaft sieht heute überall große Fragezeichen hinter diesen Versprechen und Werten des Neubeginns.

Nie wieder Faschismus? Aus der AfD kommt die unverblümt faschistische Drohung, „kulturfremde Menschen“ nach einer Machtübernahme mit „wohltemperierten Grausamkeiten“ „aus unserem Land zu deportieren“. Und: “Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet!“ Eine Politikerin mit türkischen Wurzeln sollte „in Anatolien entsorgt“ werden. Und Parteien, die sich selbst als bürgerlich fühlen, machen mit diesen Menschenfeinden gemeinsame Sache. Den Verfolgten des Naziregimes wird gleichzeitig Gemeinnützigkeit aberkannt.

Nie wieder Krieg? „Weltpolitische Verantwortung“ soll uns zu weltweiten Kriegen überreden. Das Friedensvölkerrecht der Vereinten Nationen steht dabei zur Disposition. Im Nato-Bündnis wird es immer wieder gebrochen. Forcierte Hochrüstung bis hin zu einer Verdoppelung der Militärausgaben ist angeblich unausweichlich, die Drohung mit atomarer Vernichtung unverzichtbar. 2019 steigerte Deutschland die Rüstungsausgaben um 10% – weltweit am höchsten. Deutsche Waffen befeuern die Kriege in aller Welt.

Unantastbare gleiche Menschenwürde für alle? Die Spaltung unserer Gesellschaft in Reich und Arm, Oben und Unten wächst. Die untere Hälfte besitzt 1,3% aller Vermögen, das oberste Zehntel der Reichen dagegen 56%. Dorthin fließen 40 % der Einkommen, unten reichen Mindestlöhne nicht zum Leben, gehen Altersarmut voraus. 20% der Kinder leben dauernd, weitere 10% zeitweilig in Armut, meist mit schlechten Bildungschancen. Eigentum und Kapital sind unantastbar, Menschenwürde nicht. Gerechtes Umverteilen wird als Sozialneid verächtlich gemacht.

Spaltung in Drinnen und Draußen: nicht nur Rechte wollen das. Rassismus und Antisemitismus sind alltäglich in Wort und Tat. Deutsche Herrenmenschen bestreiten, dass 4,7 Millionen Mitmenschen islamischen Glaubens zu uns „dazu gehören“.

Geflüchtete sollen wegbleiben, ertrinken im Meer, werden an Europas Grenzen mit militärischer Gewalt zurückgestoßen, dort wie auch in Afrika in unmenschliche Lager gepfercht; einige seien, so urteilt das Auswärtige Amt, wie Konzentrationslager.

Der Schutz unserer natürlichen Lebensbedingungen: verantwortungslos leugnet die Rechte die Realität. „Klimawandel ist politische Panikmache“, sagt die AfD und beantragt im Bundestag, „alle diesbezüglichen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften zu beenden“, “aus sämtlichen nationalen und internationalen Verpflichtungen auszutreten“. Das Klima habe sich „ immer schon völlig unabhängig vom menschlichen Tun geändert.“

Die Rechte – in den Parlamenten und außerhalb – hetzt gegen Mitmenschen, schürt Rassismus, beschädigt die Demokratie, zersetzt unsere Grundwerte und hat für den Schutz unserer natürlichen Lebensbedingungen nichts übrig. Die Mitte der Gesellschaft, die sich selbst als bürgerlich bezeichnet, ist nicht immun dagegen. Sie hat keine „Brandmauer“, aber offene Türen nach rechts. Wer AfD wählt, verlässt bewusst oder gedankenlos Grund- und Menschenrechte: das Fundament unseres Zusammenlebens.

75 Jahre danach: Der Feind steht rechts, immer noch. Befreien müssen wir uns selber. Zu einer mitmenschlichen und friedlichen Welt:

  • Menschenwürde statt Kapitalismus!

  • Gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte!

  • Gemeinsam gegen Menschenfeindlichkeit und Faschismus!

  • Gemeinsam gegen Krieg und Aufrüstung!

  • Gemeinsam für den Schutz unserer Lebensbedingungen!

  • Keine Stimme den Rechten und Faschisten – Bochum gegen Rechts!


Ein Gedanke zu “75 Jahre danach:
Befreien müssen wir uns selber

  • Raoul

    Dieser bürgerlich-antfaschistischen Haltung kann man nur ein „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ von Max Horkheimer entgegenhalten.

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