Mittwoch 22.04.20, 21:40 Uhr

Die Coronakrise darf nicht zur Demokratiekrise werden


Dreißig Kreidekreise auf dem von Flatterband abgesperrten Rathausvorplatz bildeten die reservierten Plätze für die genehmigten 30 Teilnehmenden einer Kundgebung des Netzwerks für bürgernahe Stadtentwicklung am heutigen Mittwochnachmittag. Ordnungsamt und Polizei achteten darauf, dass sich die Demonstrant*innen nicht zu nahe kamen. Knapp 50 Menschen mussten außerhalb der Inszenierung als „Zuschauer*innen“ stehen bleiben. Anlass für die Protestveranstaltung war die Sitzung des Haupt- und Finanzausschuss des Rates, der anschließend tagte. Auf der Tagesordnung stand u. a. der Bebauungsplan N. 964 – Schloßstraße. Wolfgang Czapracki-Mohnhaupt und Andrea Wirtz von Netzwerk machten deutlich, dass dieses Projekt exemplarisch für das Vorgehen der Stadt steht: Die Termine für Bürgerbeteiligung werden ausgesetzt, politische Entscheidungsprozesse hingegen ohne Bürgerbeteiligung fortgesetzt. Entscheidungsbildung erfolgt vorab in Fraktionen/Parteien ohne Öffentlichkeitsbeteiligung, Entscheidungen werden dann zur Verminderung der Ansteckungsgefahr in den in Notbesetzung tagenden Gremien einer beschränkten Öffentlichkeit bekannt gegeben. Alle Vorlagen der Verwaltung werden unabhängig von der Frage ihrer Aufschiebbarkeit abgearbeitet. Andrea Wirtz erläuterte in ihrer Rede das Anliegen des Netzwerkes:

Andrea Wirtz

»Seit über fünf Wochen ist das öffentliche Leben weitestgehend heruntergefahren. Wir als Bürger*innen und Aktive der Stadtgesellschaft, die sich im Netzwerk für bürgernahe Stadtentwicklung und vielen anderen Bochumer Initiativen zusammengeschlossen haben, sehen uns nicht. Für viele von uns ist es das erste Mal seit dem Shutdown wegen des Coronavirus, dass wir aufeinandertreffen. Es macht uns froh, dass wir es geschafft haben, diese Kundgebung zu organisieren, denn unter diesen Umständen Demokratie praktizieren und öffentliche Diskussionen zu führen, ist gerade so schwer wie nie.

Wir sind anderer Meinung als Innenminister Herbert Reul, der „kein Verständnis“ für Demonstrationen zum gegenwärtigen Zeitpunkt hat – zur Corona-Krise sollte auf keinen Fall eine Demokratie-Krise dazukommen! Wenn wir hier in Bochum heute zu den sieben Demos gehören, die bisher in NRW überhaupt genehmigt wurden, sollte sich das dringend ändern!!

Zu Bochum: Politik und Verwaltung haben unbestritten viel damit zu tun, den Alltag mit allen neuen Regeln für die Bochumer Bevölkerung umzusetzen.
Doch die Politiker in dieser Stadt haben sich noch mehr vorgenommen: Sie wollen „Handlungsfähigkeit demonstrieren“ und treiben deshalb alle politischen Entscheidungen in dieser Ausnahmesituation weiter voran.
Sie haben „Notstands-Gremien“ gebildet, in denen jede Fraktion oder Partei nur durch ein Mitglied vertreten ist.
Sie treffen sich weiter und haben in etlichen Bezirksvertretungs- und Ausschuss-Sitzungen in den vergangenen Wochen auf diese Weise Projekte beraten, die Bochumer Bürger*innen maßgeblich angehen.

Dazu stellen wir die Frage: Wie werden in Corona-Zeiten Entscheidungen getroffen?
Wir müssen feststellen: Die Termine für Bürgerbeteiligung werden ausgesetzt, politische Entscheidungsprozesse hingegen ohne Bürgerbeteiligung fortgesetzt.

Auch heute stehen im Hauptausschuss mehrere umstrittene Bauvorhaben auf der Tagesordnung, so der Neubau des Edeka in Weitmar oder der Bebauungsplan Schloßstraße, beides Projekte, die für die Stadteilentwicklung im Bezirk Süd-West große Bedeutung haben.

Die für heute geplante erstmalige Information der Bürgerschaft in einer Bürgerversammlung musste wegen Ansteckungsgefahr abgesetzt werden. Ein neuer Termin ist nicht absehbar. Die Vorberatung im Hauptausschuss wird jedoch nicht abgesetzt.
Vielmehr soll am 30.04. der Rat die Fortführung des Bebauungsplans endgültig beschließen.

Auch im Kleinen wird in Bochum Planung ohne Bürgerbeteiligung weiterbetrieben: Die für Ende April in Grumme für die Neugestaltung des Kinderspielplatzes Josephinenstraße vor Ort geplante Bürgerbeteiligung ist aufgrund der aktuellen Lage gestrichen worden. Dennoch geht die Planung weiter, damit der Umbau im Herbst 2020 erfolgen kann.  Eventuell – falls es die aktuelle Lage zulässt – soll ersatzweise eine Information auf dem Spielplatz frei nach dem Motto „So schön wirds!“ erfolgen – soweit das Presseamt der Stadt Bochum. Je nach Zeitpunkt können dann gegebenenfalls noch Namensvorschläge für den Spielplatz oder Farbwünsche diskutiert werden.

Das Netzwerk für bürgernahe Stadtentwicklung kritisiert diese Bochumer Praxis ausdrücklich. Warum?
Weil alle wichtigen Entscheidungen in dieser Stadt Bürgerbeteiligung brauchen.
Und es zeigt sich: Überall, wo sie nicht eingeplant war, wird sie von der Bürgerschaft massiv eingefordert. So hat erst vor einigen Wochen der Protest der Wattenscheider Bevölkerung dazu geführt, dass der Rat der Stadt Bochum im Empfehlungsgremium für das „Neue Bahnhofsquartier Wattenscheid“ fünf Plätze für Bürger*innen nachnominiert hat.

Beim Verfahren für die Schloßstraße haben betroffene Bürger*innen die mangelnde Bürgerbeteiligung deutlich kritisiert. In der Sitzung der Bezirksvertretung wurden Vertreter von Netzwerk und Bürgerinitiative deswegen als „Spinner“ bezeichnet, gegen die man strafrechtliche Schritte erwägen müsse.
Diejenigen, die an geplante Termine erinnern, Sorgen und Kritik formulieren, sich mit Bauplänen befassen wollen, die sie nachhaltig betreffen, sind also eine Gefahr für das politische Handeln?
Wir als Netzwerk für bürgernahe Stadtentwicklung fühlen uns durch solche Äußerungen nur umso mehr darin bestätigt, dass es keine Entscheidungen ohne frühzeitige Bürgerinformation und breite Bürgerbeteiligung geben darf.

Entscheidungen kommunaler Gremien gehören auch in Notzeiten nicht in die Hinterzimmer von Politik und Verwaltung.
Es ist eine Sache, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, aber eine ganz andere, über die Köpfe der Bürger*innen hinweg zu regieren.

Deshalb fordern wir, dass alle Themen vertagt werden, die nicht das unmittelbare Handeln in der Krise betreffen.
Bauvorhaben, die in der Bürgerschaft massiv umstritten sind, dürfen jetzt in Corona-Zeiten nicht entschieden werden!
Echte Handlungsfähigkeit besteht darin, auf alle aufschiebbaren Entscheidungen zu verzichten, bis die Demokratie wieder in vollem Umfang ausgeübt werden kann.

Wir fordern von den Politikern und Politikerinnen dieser Stadt:
Streichen Sie alle Punkte von der Tagesordnung, die nicht das Krisenhandeln betreffen!
Keine Planung und keine Politik ohne die Bochumer Bürgerinnen und Bürger!«