Freitag 11.05.18, 20:56 Uhr

„Unserer Verantwortung als
Nachkommen gerecht werden“


Das Bündnis gegen Rechts hatte am 8. Mai – dem Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg – zu dem traditionellem Gedenk-Rundgang auf dem Friedhof am Freigrafendamm eingeladen. Dabei wurden u. a. die Gräberfelder der russischen Kriegsgefangenen und der ZwangsarbeiterInnen aus vielen europäischen Ländern besucht und an die WiderstandskämpferInnen erinnert, die im Faschismus ermordet wurde. Am Ende der Gedenkveranstaltung berichtete der Projektkurs Geschichte von Hildegardis- und Goethe-Schule über seine Arbeit zum Thema „Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bochum im Zweiten Weltkrieg“: 
»Sehr geehrte Damen und Herren, obwohl wir als in Deutschland lebende Menschen sicherlich häufig die Augen vor unserer Geschichte verschließen wollen, so sehen wir es dennoch als unabdingbar, dafür zu sorgen, dass die Schicksale jener, die der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft zum Opfer fielen, nicht in Vergessenheit geraten.
Aus diesem Grund haben wir als Projektkurs der Hildegardis- und Goethe-Schule Bochum es uns zur Aufgabe gemacht, unserer Verantwortung als Nachkommen gerecht zu werden und den Opfern Gehör zu verschaffen.
Wir wurden vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auf ein verwahrlostes Gräberfeld auf dem Bochumer Blumenfriedhof aufmerksam gemacht. Dort liegen 307 sowjetische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter begraben, die in den Jahren 1942-44 durch Bomben, Krankheit oder unmenschliche Bedingungen, unter denen sie in Bochum leben mussten, zu Tode kamen.
Wir als Projektkurs wollen diesen Menschen ihre Geschichte zurückgeben und ihnen ein ehrenvolles Grab gestalten, denn wir alle waren schockiert, als wir zum ersten Mal auf diesem Gräberfeld waren.
Unglaube, Unverständnis und Trauer standen jeder und jedem von uns ins Gesicht geschrieben.
Bis auf eine große Grünfläche am Rande des Friedhofes und eine kaputte Steinmauer konnten wir nichts erkennen.
Kein einziger Hinweis, der auf die verlorenen Leben dieser über dreihundert Menschen aufmerksam macht.
Wir fingen an, über die Zwangsarbeit in Bochum zu recherchieren, Daten über die verstorbenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter herauszufinden und uns Gedanken über die Gestaltung des Gräberfelds zu machen.
Dabei wurden wir durch verschiedene Initiativen, sowie Einzelpersonen unterstützt und sind erfreut darüber, bereits jetzt einiger Erfolge verzeichnen zu können.
Wir wollen nun einige Ergebnisse unserer Arbeit in Form von kleinen Biografien, die wir für die sowjetischen Zwangsarbeiter erstellt haben, vorstellen. Jedem Schüler unseres Projektkurses wurden 15 Namen zugeteilt. Hinter jedem Namen steht ein Mensch und seine Geschichte. So haben wir uns die Recherche übersichtlich gestaltet.  Natürlich lassen sich nur Bruchstücke der Aufenthalte der Menschen rekonstruieren: Manchmal sind die Biografien sehr kurz, andere sind etwas länger gefasst.  Übrigens veröffentlichen wir wöchentlich einen dieser Kurzberichte auf unserer Internetseite, um sie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Wenn Sie also interessiert sind, etwas mehr über die Schicksale der Zwangsarbeiter zu erfahren, laden wir Sie herzlich ein, diese Internetseite zu besuchen.
Wir lesen jetzt vier der Biografien vor:

Biografie von Dimitri Misaschenko
Dimitri Misaschenko wurde am 22. Februar 1924 in Oschoschansk, in dem Kreis Wowschibra, in der ehemaligen Sowjetunion geboren. Dieser Ort ist jedoch nicht bestätigt, entweder ist er also sehr klein, oder es gab bei der Aufnahme des Namens ein Verständigungsproblem. Laut seiner Sterbeurkunde wurde er katholisch erzogen, allerdings ist dies eher unwahrscheinlich, denn die russisch-orthodoxe Kirche war in der Sowjetunion überwiegend verbreitet. In Bochum war er in dem Lager in der Coloniastraße in Bochum-Langendreer untergebracht. Dieses Lager gehörte zur Zeche Colonia-Mansfeld, Dimitri war also im Bergbau tätig. Zum Zeitpunkt seiner Verschleppung war er nicht verheiratet. Am 29. März 1944 verstarb er an Lungentuberkulose im jungen Alter von nur 20 Jahren. Hieraus wird deutlich, wie schlecht er behandelt wurde: Wenn er nicht durch Hunger, mangelnde Hygienebedingungen und Erschöpfung an den Rand des Ertragbaren gebracht worden wäre, hätte er überleben können, statt an Tuberkulose oder an einer anderen Krankheit zu sterben. Auf dem Blumenfriedhof in Bochum liegt Dimitri Misaschenko zusammen mit 306 anderen sowjetischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen auf dem Gräberfeld M an Position 66a begraben. Heute könnte er 94 Jahre alt sein.

Biografie von Fedor Chrin:
Der Nationalsozialismus beendete viele Leben frühzeitig. Fedor Chrin würde heute seinen 94. Geburtstag feiern, wären ihm nicht am 16. Oktober 1944  74  dieser Jahre genommen worden.
Wie auch über viele andere Zwangsarbeiter wissen wir nicht viel über ihn und sein Leben. Bei unserer Recherche beim International Tracing Service in Bad Arolsen stießen wir lediglich auf eine Karte aus den Kriegszeitunterlagen der Stadt Bochum und eine Sterbeurkunde. Beides ist unvollständig ausgefüllt und Fehler durch Verständnisprobleme bei der Aufnahme der Daten sind nicht auszuschließen.
Dokumente aus seinem vorigen Leben oder seiner Zeit in Bochum bevor er verstarb, konnten wir nicht finden.

Trotzdem können wir sagen, dass Fedor Chrin höchstwahrscheinlich am 08. Mai 1924 in der russischen Stadt Koreschki im Kreis Poltawa geboren wurde und im zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter nach Bochum kam.
Auch über den Zeitpunkt und die Umstände dieser Verschleppung lässt sich nur mutmaßen. Wir wissen, dass Deutschland erst nach dem Scheitern des Blitzkrieges 1942 Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion rekrutierte und dies fast ausschließlich gewaltsam geschah. Die deutschen Truppen überfielen oft wahllos öffentliche Einrichtungen oder Orte und entführten die darin befindliche Zivilbevölkerung. So waren spätere Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen oft nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
In Bochum lebte Fedor Chrin mit 123 anderen männlichen Zwangsarbeitern im Lager an der Halfmannswiese in Bochum-Dahlhausen und arbeitete laut einer Liste der Bochumer Zwangsarbeiterlager für Josef Rieser, allerdings haben wir bisher keinen Anhaltspunkt über die Art der Beschäftigung oder des Unternehmens finde können.
Auch er fiel den unmenschlichen Lebensverhältnissen in den Lagern zum Opfer und starb letztlich am 16. Oktober 1944 an beidseitig offener Lungentuberkulose und Darmtuberkulose.

Biografie von Wladislaus Samanczuk:
Wladislaus Samanczuk wurde am 20.05.1921 in Zloczow in der Ukraine geboren. Er arbeitete als Bergmann in der Zeche Engelsburg und lebte In den Baracken neben der Zeche. Wladislaus war dort 11 Tage beschäftigt, vom 06.07.1942 bis zum 17.07.1942, bevor er mit einem Oberarmbruch und Lähmungen infolge eines Wirbelbruchs ins Bochumer Bergmannsheil kam, wo er am 15.08.1942 im Alter von 21 Jahren verstarb.

Biografie von Fedor Prosin
Fedor Prosin wurde am 24. Juni 1920 in Bulaj im Kreis Winniza in Russland geboren. Nach seiner vermutlichen Verschleppung nach Deutschland arbeitete er als Zwangsarbeiter in der Zeche Hannibal an den Klärbrunnen in Bochum Hofstede. Dieses Steinkohlebergwerk war eine der ersten Tiefbauzechen im Norden Bochums. Wie rund 726 andere Ostarbeiter arbeitete er in der Zeche und schlief im Lager an den Klärbrunnen. Am 04. September 1944 starb er dort, im jungen Alter von nur 24 Jahren, an Lungentuberkulose, was meist ein Zeichen eines geschwächten Immunsystems in Folge von Mangelernährung ist. Es ist möglich, dass er Opfer der Verantwortlichen für die Lebensmittelversorgung geworden ist, die in der Zeche Hannibal einen großen Teil der Nahrung, die den Zwangsarbeiten zustand, nicht verteilt haben, sondern es an ein Schwein verfütterten, welches sie für sich selbst mästen wollten. Solche skrupellosen Fälle von Lebensmitteldiebstahl waren nicht ungewöhnlich, so dass viele Zwangsarbeiter, die ohnehin schon nicht genug Nahrung bekamen, noch mehr unter Hunger leiden mussten.  Da nirgendwo die Namen seiner Eltern oder anderer Angehöriger vermerkt sind, ist es wahrscheinlich, dass diese nie von seinem Tod und dessen Umständen erfahren haben.

Schlussworte
Zunächst einmal möchte ich mich im Namen des Kurses bedanken, hier sein zu dürfen. Dabei richte ich mich vor allem an Herrn Borchers, der mit der Sache auf uns zu gekommen ist und uns alle Freiheiten gelassen hat. Wir freuen uns, mit dem Thema vor ein Publikum treten zu dürfen, um es ein wenig bekannter machen zu können.
Das Thema Zwangsarbeit bleibt heutzutage größtenteils unbeachtet, obwohl die nötigen Informationen vorhanden sind. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass die Quellenlage gar nicht so schlecht ist, wie man vermuten könnte. Ganz im Gegenteil: Bei unserem eben erwähnten Besuch im Archiv des Roten Kreuzes in Bad Arolsen konnten wir zu fast jedem der 307 auf dem Blumenfriedhof begrabenen Zwangsarbeiter eine Todesurkunde finden, von denen viele auch die Todesursache enthalten.
Wenn Interesse an dem Thema bestünde, gäbe es also die Informationen, um es aufzuarbeiten und eventuell sogar für eine Entschädigung der damaligen Zwangsarbeiter oder ihrer Nachkommen zu sorgen. Dieses Interesse versuchen wir zu wecken und haben mit Zeitungsartikeln und einem Radiobericht bereits für Aufmerksamkeit gesorgt.
Wir planen auch größere Projekte wie die bereits erwähnte Umgestaltung des Gräberfelds auf dem Blumenfriedhof. Außerdem versuchen wir den Kontakt zu Nachkommen der Toten herzustellen.
Da für uns jedoch das Projekt mit Schuljahresende endet, haben wir für Verstärkung gesorgt und konnten mehr als 30 Schüler für die Weiterführung des Projekts im nächsten Jahr begeistern.
Wir hoffen so die Erinnerung an die Schicksale der 307 verstorbenen Zwangsarbeiter aufrecht erhalten zu können.