Montag 17.09.12, 16:26 Uhr
Nichts sehen, nichts hören, nicht denken:

Armseliger Sozialausschuss


von Norbert Hermann, Bochum-Prekär
Ex-OB Stüber wusste bekanntlich nichts von Schlaglöchern in Bochum. Wo sein Dienstwagen fuhr waren die Straßen in Ordnung. Die Parteienvertreter_innen im Sozialausschuss wissen auch nichts von Armut und sozialen Problemen in Bochum. In ihrem Umfeld gibt es das nicht. So war in der vergangenen Woche wieder Friede, Freude, Eierkuchen im Sozialausschuss. Dabei ist der Sozialausschuss zunehmend gefordert, sich um den Erhalt des Sozialen Friedens zu bemühen. Hier ein kritischer Bericht:

Das war wieder eine typische Abnicker-Versammlung am 06.09. (1).
Neben einem (interessanten) Bericht derKrisenhilfe über ihre Präventionsarbeit und der Vorstellung der „Leitlinien der künftigen offenen Seniorenarbeit“ (fraglich ob das Geld reichen wird und ob die Menschen erreicht werden, die es nötig haben) wurden einige brisante Themen in Windeseile durchgewunken. Es schien, als seien alle etwas gefrustet, denn der Souverän in Bochum ist eh die Verwaltung.

Flüchtlinge / Bildung und Teilhabe
Über die unzureichende Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion zu den gehamsterten Geldern aus dem Bildungs- und Teilhabepakt wurde hier bereits berichtet (2). Wir sind gespannt, unter welchem Punkt diese Gelder im aktuell vorgelegten Haushaltsplan 2013 verbucht sind. Zum Thema „Flüchtlinge in Bochum“ liegt ein „Offener Brief“ an die Leiterin des Sozialamtes vor (3). An dieser Stelle seien nur die Kolleginnen und Kollegen in den sachbearbeitenden Dienststellen erinnert, dass auch Zugewanderten ohne Aufenthaltsrecht und ohne Asylantrag nach § 1 Abs 1 Z. 4 AsylbLG oder nach § 23 SGB XII Hilfe zu gewähren ist. Das verfassungs-, EU- und menschenrechtlich geschützte menschenwürdige Existenzminimum ist unteilbar und darf nicht zur Migrationssteuerung eingeschränkt werden, so das BVerfG. Am 22.08. haben die Innenminister der Länder sich nach dem Urteil des BVerfG auf den erhöhten Betrag iHv 346 Euro entsprechend der Hartz IV-Regelleistung geeinigt. Die Differenz entsteht, weil nach dem AsylbLG Leistungen zur Innenausstattung, für Haushaltsgeräte und –gegenstände als einmalige Beihilfen erbracht werden. Es ist darauf zu achten, dass entsprechende Bedarfe für im Monatsdurchschnitt 38,– Euro (Single) auch regelmäßig beantragt werden (4).

Sozialberatung
Kurz und bündig die Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion, ob es genügend Sozialberatung in Bochum gäbe. „Ja“, war die Antwort unter Verweis auf eine Broschüre mit Adressen aller Bochumer Beratungsstellen. Dabei verfügt unsere Nachbarstadt Dortmund allein über sechs Vollzeitstellen zur Beratung von Arbeitslosen, in Bochum ist nur eine Stelle besetzt. Die Beratungsarbeit wird wesentlich von Ehrenamtlichen geleistet.

Wohnungskosten Hartz IV
Auch hier waren alle zufrieden, was aber auch daran liegt, dass die Verwaltung unzureichend informiert hat: Bochum verfügt bekanntlich nicht über ein sog. „schlüssiges Konzept“, das gewährleistet, dass alle Berechtigten mit den Geldmitteln der Mietobergrenze auch eine angemessene Wohnung finden können. Das Bundesverfassungsgericht erlaubt für eine Übergangszeit eine Mietobergrenze, die sich materiell-rechtlich an der Wohngeldtabelle (+ 10 %) orientiert. Die Stadt Bochum weicht bewusst von diesem Verfahren ab und bleibt gewollt einige Euro unter der vom BVerfG vorgegeben Grenze. Damit sind weitere Gerichtsverfahren absehbar, die das Jobcenter verlieren wird. – In Bochum müssen die etwa 20.000 Hartz IV-BGs Monat für Monat insgesamt mehr als 250.000 Euro vom kargen Regelsatz für die Wohnungskosten abzweigen (5). Darin sind die vielen „versteckt“ Zuzahlenden gar nicht enthalten. Es ist dringend notwendig, dass die Mietobergrenzen an die realen Preise und an heutige Wohngewohnheiten angepasst werden. Nur ein Mißbrauch zu Luxuszwecken ist zu verhindern. Die Mietobergrenzen sind entsprechend dem BSG-Urteil anzupassen und das vorenthaltene Geld zu erstatten. Und zwar rückwirkend zum 01.01.2010, auch wenn dazu keine rechtliche Verpflichtung besteht. Aber eine moralische! Hier ist größte Wachsamkeit geboten, der Städtetag NRW geht bereits auf die Hinterbeine (6), auch das Ministerium MAIS rudert zurück (7).

öffentlich geförderte Beschäftigung
In 2013 will sich Bochum an einem Modellprojekt öffentlich geförderter Beschäftigung beteiligen, nachdem das „Bochumer BEZ“ in 2008/2009 angeblich erfolgreich etwa 500 Menschen kurzzeitig geringfügig in Lohn und Brot bringen konnte. Hier war die einhellige Meinung (auch der Linksfraktion), dass wohl kaum jemand etwas dagegen vorbringen könne. (8)
Da haben sie aber die Diskussionen der letzten Jahre bei den Betroffenen – Erwerbslose wie Erwerbstätige und deren Gewerkschaften und die zuständigen Kammern und Innungen – verschlafen. Der Bochumer Personalrat hatte eine Beteiligung an einer ähnlicher Maßnahme abgelehnt, da dafür „keine Tarifstruktur existiere“. Verdi plädiert strikt für eine Tarifbindung solcher Tätigkeiten und für eine strikte Einhaltung der Zusätzlichkeit. Die soll aber in Zukunft wegfallen. Bochum möchte diese Billigkräfte insbesondere beim Grünflächenamt einsetzen. Irgendwie müssen die zu streichenden Kräfte ja ersetzt werden. Und wie Bochum gestrickt ist, denken sie immer ans Sparen und zuletzt an die Menschen. Der Bezirksverband Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau klagt schon seit ABM-Zeiten, dass kaum noch eine öffentliche Pflanze in Bochum von ihnen gepflegt wird. Dabei haben sie immer schon relativ viele Arbeitsplätze für eher praktisch veranlagte Menschen bereitgestellt.

Stigmatisierte Erwerbslose
Überhaupt sollen jetzt bundesweit fast ebensoviel Menschen (400.000) den Stempel „multiple Vermittlungshindernisse + Minderleistungserbringer“ aufgedrückt bekommen, wie vor Jahren überhaupt insgesamt arbeitslos gewesen sind. Der Arbeitsmarkt wird ohne eine radikale Arbeitszeitverkürzung überhaupt nie mehr in der Lage sein, alle Arbeitsuchenden aufzunehmen. (9)
Für Menschen, die tatsächlich nicht wegen der geringen Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes sondern wegen gesundheitlicher Einschränkungen nicht am Arbeitsmarkt teilhaben können, sind Maßnahmen nach dem SGB IX und XI zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen zu schaffen, vor allem aber die Verpflichtungen der Unternehmer, sie zu beschäftigen, zu verschärfen und durchzusetzen.
Die vorgeschlagen Jobs sind ohnehin schlecht bezahlt, zeitlich befristet, und ohne  Arbeitslosenversicherung.

Durchökonomisierung der Sozialarbeit
In Einzelfällen mögen solche Maßnahmen hilfreich sein. Dazu bedarf es aber einer erheblichen (quasi-therapeutischen) Biografiearbeit. Sie sind dann dem Bereich der klassischen Sozialarbeit zuzurechnen und müssen auch nach deren Kriterien gestaltet werden: die Trägerschaft muss außerhalb der potentiell strafenden (leistungskürzenden) Behörde liegen, sie muss mit einer langfristigen Perspektive verbunden sein, möglichst zusätzlich qualifizieren, und die Sozialarbeit muss fachlich qualifiziert und parteiisch erfolgen. Auch muss die Teilnahme streng freiwillig erfolgen. Auf Grund der desolaten Arbeitsmarktlage gibt es hier aber praktisch kaum Probleme.
Da in aller Regel potentielle Träger selbst um ihre Existenz kämpfen müssen, ist dem Missbrauch und der Korruption Tür und Tor geöffnet. Auch die (potentiellen) Träger brauchen eine langfristige und unabhängige Planungssicherheit. Die bisher durchgeführten Projekte führen durchweg sowohl bei den Betroffenen wie bei den (kleineren) Trägern zu Resignation und Ermüdung.

Privatisierung des Sozialen
Jede moderne Gesellschaft hat u.a. die Aufgabe, ihren Mitgliedern eine Perspektive ihrer Lebensführung zu ermöglichen. Das ist nur in der protestantisch-aufklärerisch geprägten Gesellschaft zwingend mit einer vom Inhalt unabhängigen Verausgabung der Arbeitskraft verbunden. Der blöde Spruch „Jede Arbeit ist besser als keine“ rührt daher. Arbeit als Selbstzweck gibt es nur als Zwangsprinzip im Kapitalismus. Dem zu genügen wird durch die Verknappung der Arbeitsplätze zunehmend schwieriger. Es helfen auch keine Zwangsmittel, Arbeitslose in gar nicht mehr zur Verfügung stehende Arbeit zu bringen. Die Betroffenen suchen schließlich die Schuld bei sich selbst, das gesellschaftliche Problem wird der privaten Verantwortlichkeit übergeben. Die Lösung kann nur in de Abschaffung der Arbeit liegen, was ohne Abschaffung des Kapitalismus nicht möglich sein wird.

Sozialisierung des Privaten
Bis dahin ist dem „Grauen der Leere ohne Arbeit“ entgegenzuwirken durch repressionsfreie und gute Existenzsicherung, durch Förderung kultureller, kommunikativer und müßiggängerischer Kompetenzen, und – wo das nicht reicht – durch die Bereitstellung sinnvoller und gut bezahlter herkömmlicher Arbeitsmöglichkeiten.

(1) https://session.bochum.de/somacos/net/bi/to0040.php?__ksinr=4824
(2) https://www.bo-alternativ.de/2012/09/11/moderne-raubritter/
(3) https://www.bo-alternativ.de/2012/09/13/fluechtlinge-in-bochum/
(4) Verfügung Bochum zur Umsetzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18.07.2012:
http://www.bochum.de/C12571A3001D56CE/vwContentByKey/W28XUDWL290BOCMDE/$FILE/AsylbLF_Vfg_2012_08.pdf
(5) Anerkannte laufende Wohnkosten in EUR nach Kostenarten, Kreis Bochum, Stadt, April 2012
http://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/201204/iiia7/kdu-kdu/kdu-05911-0-pdf.pdf
allgemeine Suche bundesweit:
http://statistik.arbeitsagentur.de/nn_32002/SiteGlobals/Forms/Rubrikensuche/Rubrikensuche_Form.html?view=processForm&resourceId=210368&input_=&pageLocale=de&topicId=17510&year_month=201204&year_month.GROUP=1&search=Suchen
(6) http://www.harald-thome.de/media/files/St-dtetag-28.08.2012-zu-WNG.pdf
(7) http://www.harald-thome.de/media/files/MAIS-NRW-15.8.-2012-ERlass-zu-KdU-RS-0477-12-Anlage-A1.pdf
(8) http://www.gruene.landtag.nrw.de/arbeitsmarkt/04-07-2012/sozialer-arbeitsmarkt-nrw-modellprojekte
Anschreiben MAIS an Jobcenter und Kommunen:
http://www.martina-maassen.com/fileadmin/martina-maassen.com/2011/Newsletter/Newsletter_Nr__10_Erlass_Aufruf_OEGB_20_07_12__3_.pdf
Einreichung von Projektanträgen:
http://www.gib.nrw.de/service/downloads/modellprojekt-oeffentlich-gefoerderte-beschaeftigung-in-nrw
(9) Heinz-Josef Bontrup/Mohssen Massarrat:
Manifest zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit: http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de/andere_veroeffentlichungen/2011_/4749621.html