Vortrag von Wilfried Korngiebel bei der Mahnwache Fukuschima ist überall am 30. 5. 2011 in Bochum
Dienstag 31.05.11, 16:32 Uhr

Der atomare Sicherheitsdiskurs


Während in den Atomanlagen von Fukushima die Kernschmelzen noch längst nicht unter Kontrolle sind und die gesamte Region dort auf unabsehbare Zeit verstrahlt ist, bemühen sich hierzulande die großen Energiekonzerne und die führenden Politiker, den Super-GAU schnellstmöglich im öffentlichen Bewusstsein zu „normalisieren“. Sie arbeiten dabei mit verschiedenen semantischen Tricks, um einen Meinungsumschwung in der Bevölkerung bzw. ein Vergessen der tagtäglichen Gefahren zu bewirken. So versuchen sie, Atomrisiken zu relativieren und andere, unvergleichbar geringere Risiken künstlich hochzuspielen.

Ein Blick in die Massenmedien zeigt, dass dabei der Begriff „Sicherheit“ eine zentrale Rolle einnimmt. Das, was wir beim Thema Atomtechnologie unter „Sicherheit“ verstehen: die Sicherheit der Menschen und ihrer natürlichen Umwelt vor Reaktorkatastrophen, Strahlenschäden und jahrtausendelangem Hochrisiko, wird verschoben, hin zu einem ökonomisch und technisch verstandenen Begriff von „Sicherheit“, der mit der Inszenierung eines Horrorszenarios vom Stromausfall einhergeht und an dementsprechende Ängste appelliert. In den Reden der Politiker und Manager geht es folglich um „Netzsicherheit“, „Versorgungssicherheit“ und sogar um Atomkraftwerke als „Sicherheitspuffer“. In diesem Sinne konsequent wird auch mit finanziellen Ängsten gespielt (oder sagen wir besser: wird mit handfesten Drohungen gearbeitet): die Kundinnen und Kunden der Stromanbieter hätten die Energiewende zu tragen. Von „Kosten“, „Bezahlbarkeit“ und „Preisen“ ist also die Rede – und etwas verschämter auch: von den „Gewinnen“ der Energieriesen RWE, E.ON, EnBW und Vattenfall.

In der taz vom 30.05.11 heißt es zum Beschluss der Regierungskoalition:

Der Großteil der Meiler soll nach dem Willen der Bundesregierung schon bis 2021 vom Netz. Falls es Probleme bei der Energiewende geben sollte, will die Koalition die letzten drei Meiler jedoch erst ein Jahr später abschalten. Diese Anlagen werden als „Sicherheitspuffer“ angesehen.

Es zeichnet sich offenbar schon eine supergroße Koalition für diesen Plan eines enorm verzögerten Atomausstiegs ab. Wir fordern die GRÜNEN auf, sich ebenso wie die LINKE einem solchen faulen Kompromiss zu verweigern und sich mit allen Kräften für einen schnellen Atomausstieg einzusetzen, wir ihn Bürgerinitiativen und Umweltverbände fordern! Noch sind die GRÜNEN außerhalb dieser supergroßen Koalition…

NRW-Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) kritisierte den Beschluss als „faulen Kompromiss“. Wir versuchen jetzt in den Verhandlungen mit dem Bund, ein früheres Ausstiegsdatum zu erreichen“, sagte der Grünen-Politiker am Montag in Düsseldorf. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin monierte: „Die Hintertüren sind noch nicht zu.“ (WAZ 30.05.11)

Die Industrie hingegen will Strahlenschutz und Klimaschutz gegeneinander ausspielen und uns nur die bekannte Wahl zwischen Teufel und Beelzebub lassen, denn sie interessiert sich allein für Zahlen und Bilanzen:

Daimlerchef Zetsche kritisierte, die Bundesregierung habe nach der Atomkatastrophe in Japan innerhalb weniger Tage und sehr emotional entschieden. Von einer guten Regierung wünsche er sich aber, dass sie bei einer so wichtigen Frage wie der Energieversorgung alle Aspekte sehr genau prüfe. „Dabei müssen der Klimaschutz, die Sicherheit und die Kosten berücksichtigt werden“, sagte Zetsche. Die Bundesregierung verfolge keinen eindeutigen Kurs. „Die Abkehr von einer bezahlbaren Energieversorgung ist klar ein Risiko“, sagte Zetsche.“ (WAZ 30.05.11)

Die SPD-Spitzenpolitikerin Hannelore Kraft betreibt in der Atomdebatte bezeichnenderweise Schulterschluss mit der FDP. Sie warnt vor einem „Hauruck“-Ausstieg aus der Atomenergie:

Die FDP und die sozialdemokratische Ministerpräsidentin von NRW, Hannelore Kraft, mahnten am Wochenende „Realismus“ an und warnten vor übereilten Beschlüssen. […] Kraft hält so viel Eile für riskant. Die Gefahr sei groß, dass Fehler gemacht würden: „Entscheidend ist doch nicht, ob wir den Atomausstieg ein oder zwei Jahre früher oder später hinbekommen. Entscheidend ist, dass wir ihn gut gestalten und die Versorgungssicherheit und Preise berücksichtigen.“ (WAZ-online 29.05.11)

Kennen wir diese Scheindebatte nicht zu gut? Wenn es hier „Realismus“ gibt, dann ist auch unausgesprochen sein Gegensatz „Fundamentalismus“ mitgemeint. Sind wir damit gemeint, die wir längst wissen, dass Atomtechnologie nicht beherrschbar ist und nur ein unmittelbarer Ausstieg das Restrisiko minimiert? Zwar soll laut Bundesregierung die Brennelementesteuer erhalten bleiben, doch gleichzeitig wird die Förderung von Solaranlagen stark gekürzt. Sieht das nach einer Energiewende aus? FDP-Chef Philipp Rösler lässt sogar ein weiteres Hintertürchen offen:

man werde sich nicht an einem „Bieterwettbewerb“ über ein Ausstiegsdatum beteiligen. Mehr zeitliche Flexibilität wäre den Liberalen lieber, etwa in Form eines Zeitkorridors. (WAZ-online 29.05.11).

Das sieht wenig nach einem wirklichen Atomausstieg aus, eher nach einem Wettbewerb unter dem Motto: Wer hält seine AKWs am längsten im Spiel?

Von einer Energiewende im „Hauruck-Verfahren“ hält auch Sozialdemokratin Kraft nichts. Sie denkt an die energieintensiven Branchen an Rhein und Ruhr: Aluminium, Stahl, Papier, Glas – und an die Steinkohle. Grundsätzlich sei sie „offen für weitere fossile Kraftwerke“. (WAZ-online 29.05.11)

Rösler benötigt zudem wohl technologische Nachhilfe, da er anscheinend der Meinung ist, man könne ein Atomkraftwerk wie einen Computer oder Fernseher einfach auf „Stand-by“ schalten:

Um Versorgungslücken bei der Stilllegung der ältesten Atomkraftwerke in Deutschland zu vermeiden, schlägt Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) eine sogenannte Kaltreserve vor: Ein bis zwei Atomkraftwerke müssten „für eine gewisse Zeit im kalten Stand-by-Modus bleiben und nicht sofort zurückgebaut werden“, sagte er der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom Samstag. Sie blieben heruntergefahren, erhielten sich aber die Fähigkeit, innerhalb kurzer Zeit wieder hochgefahren zu werden. Die Atomaufsicht müsse aber prüfen, ob das Sicherheitsrisiko dieser Kraftwerke geringer wäre, betonte Rösler. Auch der Präsident der Bundesnetzagentur, Matthias Kurth hatte zuletzt ins Gespräch gebracht, aus Netzsicherheitsgründen den Zugriff auf ein oder zwei der stillgelegten Atomkraftwerke offenzuhalten. Rösler warnte im Falle eines Stromausfalls vor Milliardenkosten. Die Schadenshöhe bezifferte der Minister unter Bezugnahme auf Studien mit 6,50 Euro je Kilowattstunde. Deutschland verbrauche etwa sechs Milliarden Kilowattstunden pro Tag. Die Kosten hingen davon ab, ob ein großes oder kleines Gebiet betroffen sei und wie lange ein Stromausfall dauere. (WAZ 28.05.11)

Wilde Schreckenszenarien und handfeste Drohungen wie gehabt. Doch wir wissen inzwischen, dass Ökostrom von Lichtblick, Naturstrom, Greenpeace Energy oder den Elektrizitätswerken Schönau kaum mehr kostet als unsere bisherigen Stromrechnungen uns abforderten. Der Ausbau erneuerbarer Energien und Energiesparen sind gut machbar, wenn sie nur politisch gewollt sind! Ein Kommentar in der Frankfurter Rundschau bringt allerdings die momentane politische Situation gut auf den Punkt:

Merkel und Co. haben offenbar nicht vor, den Umbau des Energiesystems so schnell durchzuführen, wie es zur Minderung des Atomrisikos notwendig ist. Ganz offensichtlich nehmen sie wieder einmal mehr Rücksicht als nötig auf die Interessen der Stromkonzerne, die der Verzicht auf die nuklearen Gelddruckmaschinen zugegebenermaßen sehr schmerzt. Nach Fukushima hatte man anderes erhofft. (FR 30.05.11, Kommentar)

Es bleibt freilich noch zu ergänzen: idiotische Alternativen wie „Geld oder Leben“, „Atomrisiko oder Klimarisiko“, „Strahlungstod oder Versorgungsnot“ können wir nicht akzeptieren!

Auf der Göttinger Anti-Atom-Demonstration am letzten Samstag hat Elmar Altvater in seiner Rede festgestellt: „Atomreaktoren erzeugen nicht nur Strom, sondern auch Macht“. (taz 30.05.11)

Ich denke, er hat es auch in dem Sinne gemeint: Macht ist nicht außerhalb von uns, wir sind ein Teil von ihr, denn Macht ist wie ein Netz mit Knotenpunkten. Durch unsere wertschaffende Arbeit, durch unser Konsumverhalten und durch unser Stillhalten sichern wir den Energiekonzernen und ihren Bauchrednerpuppen in den Ministersesseln ihre Machtkonzentration, ihre Knotenpunkte. Durch unseren Protest, unsere Verweigerung und unseren Widerstand, durch unseren Wechsel zu atomstromfreien und klimaschonenden Energieanbietern, durch unser Einwirken auf die vielen Stadtwerke zu einer Energiewende, durch unsere Entwicklung von gesellschaftlichen Alternativen, durch unser Praktizieren von Demokratie können wir den Mächtigen aber auch Macht entziehen! In diesem Sinne: Nehmen wir die Atom-Politiker und Atom-Manager vom Netz! Schnellstmöglich!