Die bei dem 2. Rat von unten am 28.9. im Bahnhof Langendreer vorgetragene Einschätzung der allgemeinen Lage liegt der Redaktion nun vor: »über die aktuelle politische Lage zu sprechen ist nicht einfach. Beim letzten Mal haben wir eine lange Rede darüber gehalten, wie die aktuelle politische Lage aus unserer Sicht zu bewerten ist. Vieles war euch wahrscheinlich nicht neu und viele Themen beschäftigen einige auch schon seit sehr langer Zeit. Am erschreckendsten fand ich eigentlich, dass ein Freund vom Friedensplenum, der sich schon seit 70 Jahren gegen Krieg einsetzt, zu uns meinte, so wenig Reaktionen und Widerstand gegen die Militarisierung, wie aktuell, hat er noch nie erlebt. Die Deutschen sollen wieder kriegstüchtig werden und der Widerstand dagegen ist kaum sichtbar.
Dann geht es irgendwie weiter mit dem Erfolg rechter Parteien bei den Europawahlen und auch bei den Landtagswahlen in Deutschland, immer weitere Eskalation im Nahen Osten, Hungersnot im Sudan, islamistische Attentate in Deutschland, fortschreitende Entmenschlichung und Entrechtung flüchtender Menschen… Die Liste ist lang. Viele Menschen schließen sich schon zusammen und kämpfen für Veränderungen, so wie viele hier im Raum, aber zu oft lassen wir uns spalten und schaffen es nicht, einen gemeinsamen Geist oder ein gemeinsames Ziel zu entwickeln.
Wir alle spüren, dass da etwas gewaltig schiefläuft. Wir sind müde davon, seit Jahren oder teilweise auch schon seit Jahrzehnten darüber zu sprechen, wie eine Krise die nächste jagt, wie die Umwelt weiterhin zerstört wird, Kriege ausbrechen und nicht mehr aufhören und Menschen auf der Flucht vor diesen Kriegen keine Garantie auf Sicherheit bekommen.
Verglichen dazu leben viele von uns hier in Bochum in einer scheinbar heilen Welt. Theoretisch mangelt es uns an nichts, die meisten von uns hier im Raum haben ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen, und wahrscheinlich auch mehr oder weniger Geld übrig, um sich mal was nettes zu gönnen. Und trotzdem spüren wir, dass das nicht ausreicht und nicht richtig ist. Uns ist klar, dass so viel von unserem Wohlstand hier nur deswegen existiert, weil er Menschen an anderen Orten der Welt vorenthalten oder geraubt wird. Irgendwie sind wir zu Kollaborateuren dieses Systems geworden, profitieren von ihm und gleichzeitig wollen wir es nicht sein und haben dazu auch nie unser Einverständnis gegeben. Wir spüren, dass etwas falsch läuft, wissen aber auch nicht, wo wir überhaupt anfangen sollen.
Und wenn wir dann anfangen, uns dagegenzustellen, merken wir auch, wie anstrengend das ist, unbequem und stressig und irgendwie macht es auch Angst, so vieles zu hinterfragen und nicht zu wissen, was genau daraus wird.
Vor einem dreiviertel Jahr war ich mit Freundinnen aus Bochum in Mexiko bei den Zapatistas. Die Zapatistas sind ein Zusammenschluss meist bäuerlicher indigener Menschen in Südmexiko, die gemeinsam ein selbstbestimmtes Leben aufgebaut haben und es auch weiterhin tun. Darin verwalten sie sich komplett selbst und leben unabhängig von staatlichen Hilfen oder Einrichtungen. Einiger dieser Menschen waren vor zwei Jahren teilweise zum ersten Mal in Europa, um sich die Realität hier anzuschauen. Europa, so wurde ihnen immer erzählt, sei das Paradies und die am weitesten entwickelte Zivilisation. Was sie dann aber gesehen haben, als sie hier ankamen, war alles andere als ein Paradies: Betonwüsten, einsame und vereinzelte Menschen, ein Staat, der in jede Zelle der Menschen vorgedrungen ist, soweit, dass Menschen sogar bereit sind, dem Staat vorher Bescheid zu sagen, wenn sie gegen ihn protestieren wollen und eine verstädterte Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu ernähren, zu verwalten oder zu verteidigen.
Für die Zapatistas war nach ihrer Reise klar, dass Europa kein Paradies und keine weiter entwickelte Zivilisation ist. Aber ist uns das auch klar? Ich meine, für uns ist diese Realität ja normal, viele von uns sind in ihr aufgewachsen und kennen nichts anderes. Wir haben uns daran gewöhnt, dass irgendwie alle Menschen Depressionen haben, einsam sind, gestresst sind von ihrer Arbeit oder gestresst sind, wenn sie keine haben. Und dass alle mit den Schultern zucken, wenn wieder irgendwelche neuen Gesetze beschlossen werden, die uns scheinbar nicht betreffen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir in einer Welt leben, in der es immer absurder erscheint, Kinder zu bekommen, weil man gar nicht weiß, wie man alles unter einen Hut kriegen soll und irgendwie auch glaubt, dass der Planet in ein paar Jahrzehnten nicht mehr bewohnbar ist. Irgendwie fehlt uns die Kraft, auf all das noch zu reagieren, wir fühlen uns paralysiert.
Aber ich glaube, genau das müssen wir thematisieren und politisieren. Dieses Gefühl der Ohnmacht. Das kommt nicht von irgendwo her. Dieses Gefühl ist politisch gewollt. Eine Gesellschaft, die das Gefühl hat, gegen diese ganzen Ungerechtigkeiten nichts mehr unternehmen zu können, ist natürlich leicht zu regieren. Es ist leicht ihr noch weiter Angst zu machen, sie zu verunsichern, und ihr scheinbare Lösungen zu verkaufen, die am Ende nichts besser machen werden. Wenn die Gesellschaft an den Punkt gebracht wurde, dass sie nicht mehr in ihre eigene Kraft vertraut, dass sie ihren Nachbarn nicht mehr vertraut und ihren Freund:innen nicht mehr vertraut, dann kann der Staat ganz leicht kommen und seine Lösungen anbieten. Denn wir wissen dann nicht mehr, was wir eigentlich brauchen und wie wir unsere Bedürfnisse befriedigen sollen.
Es ist einfach zu erkennen, dass du bedroht wirst, wenn jemand mit einer Waffe vor dir steht. Aber wenn die Bedrohung irgendwie abstrakt ist, du sie nicht greifen kannst, ja dann ist es schwer zu erkennen, dass du bedroht wirst. Aber genau das ist der Fall. Unsere menschlichen Werte sind bedroht, genauso wie unsere psychische Gesundheit, unser Zusammenhalt als Gesellschaft, unsere Fähigkeit, in Gemeinschaften zu leben und dafür die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Sich dagegen zu wehren, ist verdammt schwer. Aber deswegen sind wir heute hier. Wir wollen und können das nicht weiter akzeptieren. Wir wollen keine Kollaborateure dieses Systems mehr sein und wir wollen raus aus der Ohnmacht. Das ist leichter gesagt als getan und jeden Tag ringen wir darum, nicht doch den bequemen Weg zu gehen. Wahrscheinlich hört es auch nicht auf, sich jeden Tag diese Fragen neu zu stellen und neu dafür entscheiden zu müssen.
Wir haben auch leider kein Patentrezept, wie wir diesen riesigen Krisenball lösen sollen. Was für uns gut funktioniert, kann für andere totaler Quatsch sein. Deswegen müssen wir auch unterschiedliche Wege darin finden, diese Alternativen aufzubauen. Es muss darin Platz für verschiedene Lösungen geben. Vor allem brauchen wir viele unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Ideen, die sich zusammenschließen. Die sich in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen, aber diese Unterschiede nicht bekämpfen wollen.
Dieser Ort hier, der Rat von Unten, soll der Ort sein, an dem wir uns darüber austauschen und uns die Frage stellen: Wie können wir gemeinsam gefährlich werden? So dass wir in Bochum wirklich eine Veränderung spüren? Wo ist es notwendig, zusammenzuarbeiten und wo nicht? Welche Orte braucht es noch in der Stadt? Mit welchen Menschen wollen wir noch darüber sprechen, wen wollen wir ins Boot holen und wer soll am besten erst mal nicht mitreden? Was genau meinen wir mit Solidarität und wie kann es nicht nur ein leeres Wort bleiben? Wir wissen, dass das sehr große Fragen sind und viele, wir auch, sich nach schnellen und einfachen Lösungen sehnen. Aber wir brauchen darin eine Ausdauer und dürfen nicht glauben, am Ende dieses Tages schon damit fertig zu sein. Aber wir haben jetzt gehört, was die Idee vom Rat früher war oder an anderen Orten ist und wir können überlegen, wie wir so etwas hier in Bochum schaffen.
Wir sind auch hier, um uns gegenseitig unsere Arbeiten vorzustellen und davon zu erzählen, was es schon alles großartiges gibt, was in Bochum schon aufgebaut wurde, was erkämpft wurde und in welchen Initiativen, Vereinen und Gruppen sich Menschen gerade schon zusammentun.
Deswegen sind wir auch froh, dass so viele unterschiedliche Menschen hier sind und ihr Wissen in den Rat einbringen können.«