Der Flüchtlingsrat NRW richtet sich mit einem offenen Schreiben an alle Engagierten in der Flüchtlingssolidaritätsarbeit: »derzeit wird in Nordrhein-Westfalen die Einführung einer Bezahlkarte für Schutzsuchende intensiv vorbereitet bzw. mancherorts bereits umgesetzt. Auf der Bundesebene wurde im April durch eine Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) die rechtliche Grundlage für eine Leistungsgewährung mittels Bezahlkarte geschaffen. Dies betrifft nicht nur, wie ursprünglich vorgesehen, Empfängerinnen von sogenannten Grundleistungen, die in den ersten 36 Monaten gewährt werden, sondern alle Leistungsempfängerinnen nach dem AsylbLG. In NRW wird aktuell über einen Gesetzentwurf[1] beraten, der im Sinne landesweiter Einheitlichkeit die Leistungsgewährung per Karte als Regelfall vorsieht. NRW und weitere 13 Bundesländer greifen bei der Umsetzung der Bezahlkarte auf die Dienstleistungen des in einem bundesweiten Vergabeverfahren ausgewählten Gemeinschaftsprojekts SocialCard zurück.
Gegen die Bezahlkarte für Flüchtlinge sprechen allerdings ernstzunehmende grundsätzliche Bedenken sowie schwerwiegende Probleme bei der praktischen Umsetzung. Es ist wichtig, ein deutliches Signal an die nordrhein-westfälische Landesregierung senden, wieder Abstand zu nehmen von den Plänen eines verpflichtenden Bezahlkartensystems. Einige Kommunen in NRW haben sich daher bereits klar gegen eine Einführung ausgesprochen.[2] Es wäre wünschenswert, wenn diesem Beispiel weitere Kommunen folgen und sich überdies die (Ober-)Bürgermeisterinnen direkt gegenüber der Landesregierung gegen diese Pläne stellen. Wir möchten Ihnen im Folgenden einige zentrale Argumente gegen die Bezahlkarte darlegen.
Erhöhung des Verwaltungsaufwandes
Ausdrücklich genanntes Ziel der Einführung der Bezahlkarte ist die Reduzierung des Verwaltungsaufwandes.[3] Jedoch ist das genaue Gegenteil der Fall: Mit der Bezahlkarte ist eine erhebliche Mehrbelastung kommunaler Behörden verbunden.
Die meisten Schutzsuchenden haben ein eigenes (Basis-)Konto, auf welches die Sozialleistungen unkompliziert per Überweisung ausgezahlt werden (können). Dieses bewährte System stellt für alle Seiten die beste Lösung dar. Bei Einsatz der Bezahlkarte werden Sozialleistungen als Guthaben auf die (Debit-)Karte gebucht, sie ist nicht mit einem regulären Bankkonto verknüpft. Die Umstellung auf ein komplett neues Modell bedeutet für die Verwaltung ein hohes Maß an Aufwand, zumal vor Ort erst einmal die (technischen) Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Zudem sind die Sozialämter bei Verlust oder Defekt der Bezahlkarte im jeweiligen Einzelfall gehalten, die Karte zu sperren und eine neue Karte auszugeben.
Hinzu kommt die planmäßige Ausgestaltung des Bezahlkartenmodells. Danach sind Überweisungsmöglichkeiten standardmäßig nicht vorgesehen. Außerdem kann der Anwendungsbereich der Karte auf das Gebiet einer bestimmten Postleitzahl eingegrenzt werden. Barmittel sollen den Leistungsempfängerinnen lediglich in Höhe des von den Ländern vereinbarten Betrags von monatlich 50 Euro pro volljähriger Person zur Verfügung stehen.
Die pauschale Begrenzung des Barbetrags wird in drei im Juli 2024 ergangenen Eilentscheidungen der Sozialgerichte Hamburg (S 7 AY 410/24 ER)[4] und Nürnberg (S 11 AY 15/24 ER und S 11 AY 18/24 ER)[5] für rechtswidrig befunden. Den Gerichten zufolge müssen die Behörden jeweils im konkreten Einzelfall prüfen, ob eine Deckung grundlegender Bedürfnisse mittels der Bezahlkarte möglich ist und wie hoch der zur Verfügung stehende Barbetrag ausfallen muss. Es ist absehbar, dass auch die Sozialgerichte in NRW dieser Argumentation folgen. Auch hier wäre die Folge wieder ein erhöhter, nicht ein geringerer Verwaltungsaufwand, zum einen durch die notwendigen individuellen Prüfungen und, insbesondere wenn diese unterbleiben, zum anderen durch die zu erwartenden Widersprüche und Klagen.
Zudem zeigen Erfahrungswerte aus der Praxis – z. B. aus Bayern, wo die Bezahlkarte bereits seit einigen Monaten zum Einsatz kommt –, dass lokale Entscheidungsträgerinnen vermehrt die Notwendigkeit gewisser Überweisungsmöglichkeiten anerkennen.[6] Die Überweisung an bestimmte Empfängerinnen wird dabei über eine sog. „Whitelist“ erlaubt. Gängige Empfängerinnen, wie etwa lokale Sprachkursanbieterinnen, können dabei pauschal freigeschaltet werden, in vielen Fällen muss jedoch eine individuelle Prüfung und Freigabe der Überweisungsziele durch Sachbearbeitende erfolgen. Die Bezahlkarte bringt also in dieser Hinsicht ebenfalls eine weitere Belastung der Behörden mit sich.
Diskriminierend und verfassungswidrig
Die Bezahlkarte ist auch deshalb abzulehnen, weil sie diskriminierend und absehbar verfassungswidrig ist. Die Einführung der Karte würde bedeuten, dass die Leistungsempfängerinnen über die im Falle der Gewährung von Grundleistungen ohnehin unter dem Existenzminimum liegenden Zahlungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht mal mehr frei verfügen könnten.
Der fehlende Zugang zum bargeldlosen Zahlungsverkehr kann u. a. das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz der Karteninhaberinnen gefährden, da Rechtsanwältinnen meist auf Ratenzahlung per Überweisung setzen. Geflüchtete Menschen werden zudem in ihrer Freiheit eingeschränkt, Verträge abzuschließen – egal ob Versicherungen, Telefonverträge, Online-Einkäufe oder das Deutschlandticket. Eine „Korrektur“ ist nach der bisherigen Praxis nur über den aufwändigen Umweg der – gar nicht vorgesehenen – Whitelist möglich.
Die Begrenzung des Barbetrags erschwert es den Betroffenen, in Geschäften oder auf Märkten einzukaufen, die keine (Debit-)Kartenzahlung bieten. Selbst kleine alltägliche Ausgaben – beispielsweise Taschengeld für den Schulausflug der Kinder oder Münzen für die Benutzung öffentlicher Toiletten – würden zur Herausforderung werden.
Verfassungsrechtlich zutiefst problematisch ist auch die Möglichkeit, die Nutzung der Bezahlkarte örtlich zu beschränken. In einem „Pilotprojekt“ der Stadt Velbert ist es den Betroffenen durch die örtliche Beschränkung des Einsatzes der Karte auf das Stadtgebiet so selbst verwehrt, andernorts preiswerter einzukaufen. Da eine räumliche Begrenzung der Karte auch z. B. Rückschlüsse auf geltende Aufenthaltsbeschränkungen zulässt, ist dadurch zudem der Weg eröffnet, Sozialleistungen als Kontroll- und Disziplinierungsinstrument zu missbrauchen – ein massiver Eingriff in die Würde und Handlungsfreiheit eines jeden Menschen.
Datenschutzbedenken
Des Weiteren begegnet die Bezahlkarte gravierenden Bedenken in Bezug auf den Datenschutz. Ein wesentliches Problem ist die Möglichkeit des Einblicks der Behörden in die finanziellen Aktivitäten von Schutzsuchenden. Soll die Leistungsbehörde für eine Karteninhaberin etwa über die Whitelist Überweisungsempfängerinnen freigeben, werden den Sachbearbeitenden dadurch private und möglicherweise sensible Daten über die Antragstellende bekannt, z. B. hinsichtlich Konsumverhalten und Aufenthaltsorten.
Die Konferenz der Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder hat in einem Positionspapier[7] vom 19.04.2024 ausdrücklich eine generelle Einsichtnahme der Leistungsbehörden in den Finanzverkehr der Leistungsempfängerinnen als rechtswidrig eingestuft und auch Bedenken hinsichtlich der anlassbezogenen Einsichtnahme angemeldet. Darüber hinaus wurde u. a. die Weitergabe der Ausländerzentralregister-Nummer der Leistungsempfängerinnen an nicht-staatliche Stellen – nämlich an die Anbieterin der Bezahlkarte – als Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung kritisiert. Über diese Nummer ist der Zugriff auf äußerst sensible Daten möglich, es bestehe eine hohe Missbrauchsgefahr. Die Datenschutzaufsichtsbehörden problematisieren außerdem die Möglichkeit der Einsichtnahme der Sozialämter in den Guthabenstand auf den Bezahlkarten sowie die Möglichkeit der räumlichen Begrenzung der Karte.
Ungeeignet zur Zielerreichung
Die Einführung der Bezahlkarte wird nicht nur mit der falschen Annahme eines verringerten Verwaltungsaufwands begründet, sie soll auch migrationspolitischen Zielen dienen. Dem hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein (CDU) zufolge stellt sie „ein wichtiges Instrument zur Begrenzung illegaler Migration“ dar und „bekämpft das Unwesen der Schlepper“[8].
Die Theorie sozialpolitischer „Pull-Faktoren“ für Fluchtbewegungen ist jedoch in der Migrationsforschung vielfach widerlegt worden. Menschen fliehen aufgrund von Krieg, Unterdrückung und humanitären Notlagen. So hatte auch das 1993 in Kraft getretene AsylbLG, welches mit dem Ziel geschaffen wurde, „finanzielle Anreize“ zu vermeiden und so die Zahl der Schutzsuchenden zu senken, merklich keinen Einfluss auf Fluchtbewegungen. Auch die Annahme, dass Menschen, die Asylbewerberleistungen beziehen, große Summen an Schlepper oder in ihre Herkunftsländer überweisen, wird von Migrationsforschenden aufgrund der geringen Höhe des Asylbewerberleistungsgesetzes (monatlicher Betrag des persönlichen Bedarfs max. 204 € pro erwachsene alleinstehende Person) angezweifelt.
Deshalb: Nein zur Bezahlkarte!
Insgesamt schränkt die Bezahlkarte die gesellschaftliche Teilhabe und damit die Integration geflüchteter Menschen erheblich ein. Ihnen wird im Alltag durch die Einführung der Bezahlkarte fortlaufend vermittelt, nur Menschen zweiter Klasse zu sein.
Wir ermutigen Sie deshalb, sich – u. a. unter Rückgriff auf die aufgeführten Argumente – gegenüber Ihrem Stadt-/Gemeinderat gegen die Bezahlkarte auszusprechen! Von kommunaler Seite kann auf diese Weise Druck erzeugt werden, damit die Landesregierung ihren gegenwärtigen Gesetzentwurf zur Bezahlkarte verwirft. Sollte es doch zu einer NRW-weiten Einführung der Bezahlkarte kommen, können Sie darauf hinwirken, dass Ihre Kommune von der im Landesgesetz eingeräumten „Opt-out“-Möglichkeit Gebrauch macht und Asylbewerberleistungen weiterhin per Überweisung gewährt!«