Dienstag 02.07.24, 11:48 Uhr
Anwaltliche Stellungnahme zum Vorgehen von Polizei und Justiz in Essen

Schikanen und Rechtsverstöße 1


In dem Bericht über die Aktionen in Essen gestern wurde bereits auf die Schikanen und Rechtsverletzungen gegenüber den Aktivist*innen hingewiesen. Heute hat das Team der Anwält*innen eine Stellungnahme zu den Vorgängen veröffentlicht: »Das Legal-Team, das sich anlässlich des AfD-Bundesparteitags in Essen und den angekündigten Gegenprotesten als ein Zusammenschluss von Rechtsanwält*innen zur rechtlichen Begleitung des Protestes gebildet hat, ist bestürzt über den Umgang von Polizei und Justiz mit größtenteils friedlichem Protest.

1.
Am Samstagmorgen mussten wir ein provokantes, gewaltbereites Auftreten der Einsatzkräfte und massive Polizeigewalt beobachten. Die Kommunikation mit dem Legal-Team wurde überwiegend verweigert. Ein lösungsorientiertes, deeskalierendes Handeln der Polizei konnten wir in weiten Teilen nicht feststellen.

Stattdessen kam es zu Würgegriffen von hinten durch Polizeibeamt*innen und Tritte der Einsatzkräfte gegen am Boden liegende Menschen sowie Faustschlägen ins Gesicht. Auch kamen Pfefferspray und Schlagstöcke zum Einsatz, was sich in den von uns beobachteten Fällen als vollkommen unverhältnismäßiges Vorgehen der Polizei darstellte. Mindestens eine protestierende Person erlitt einen Armbruch. Hinzu kamen Schürfwunden, Prellungen und weitere Verletzungen. Mehrfach waren Sanitäter*inneneinsätze erforderlich. In den Medien und durch die Polizei Essen wird hingegen überwiegend lediglich erwähnt, dass es teilweise zu Verletzungen der eingesetzten Beamt*innen kam.

Zeitweise wurden auch die anwaltlichen Mitglieder des Legalteams in einem sog. Kessel festgehalten und gewaltsam davon abgehalten, den Kessel zu verlassen oder wurden körperlich angegangen. Auch wurde eine Person schnell durch Einsatzkräfte abtransportiert, ohne ihrem Wunsch nach anwaltlicher Unterstützung nachzukommen, obwohl dieser explizit geäußert wurde, und Anwält*innen vor Ort waren.

2.
Nach unseren Informationen befanden sich insgesamt 23 Personen in Gewahrsam. Obwohl die Dauer des Gewahrsams durch die Polizei in den überwiegenden Fällen bis Sonntag, 20 Uhr, beantragt wurde, wurde dies teilweise durch richterliche Beschlüsse abgelehnt; so kamen viele Betroffene schon früher frei.

Festzustellen ist: Obwohl die Polizei monatelang Zeit hatte, sich auf die Einsätze an diesem Wochenende vorzubereiten, und dies im Hinblick auf die Sicherung des Parteitags der AfD auch gründlich tat, waren in der Vorbereitung die anwaltliche Vertretung und Beratung von Gegendemonstrant*innen, und damit grundlegende demokratische Rechte, nicht bedacht worden; die Folge waren chaotische Zustände bishin zu bewusster Verweigerung des Zugangs zu anwaltlicher Beratung und Vertretung:

Personen in Gewahrsam wurde die telefonische Kontaktaufnahme, die gesetzlich vorgeschrieben ist, über viele Stunden zunächst verweigert. Teilweise konnten Betroffene erst nach der richterlichen Vorführung telefonieren, obwohl Anwält*innen bereit waren, den Vorführungen beizuwohnen und der Wunsch nach Vertretung geäußert wurde. Es entstand der Eindruck, dass die Anhörungen teilweise bewusst ohne anwaltliche Vertretung durchgeführt wurden.

Selbst richterliche Entscheidungen wurden mindestens in einem uns bekannten Fall nicht umgesetzt: So hielt beispielsweise die Richterin den Gewahrsam in einem Fall für unzulässig, so dass die betroffene Person daher unverzüglich frei zu lassen gewesen wäre. Die Person befand sich aber noch weitere drei Stunden im Gewahrsam. Ein Gespräch mit dem Ermittlungsleiter, um hier auf die Druchsetzung des richterlichen Beschlusses hinzuwirken, wurde uns verweigert.

3.
Die Umstände für die Betroffenen und für die anwaltliche Beratung und Vertretung im PP Essen waren katastrophal:
Da die Räume im Polizeipräsidium nicht ausreichten, mussten Personen teilweise zu siebt oder gar zu neunt in einer Zelle ausharren. Es gab dort jeweils nur eine Toilette ohne Sichtschutz. Die Luft war sehr schlecht, erst nach vielen Beschwerden wurde ein Fenster geöffnet, was jedoch die Situation nicht wesentlich verbesserte. Teilweise wurden Ingewahrsamnahmen daher auch wegen der widrigen Umstände in den Zellen aufgehoben. Viele Betroffene klagten über Schwindel, Kopfschmerzen und Kreislaufprobleme. Ein Betroffener beklagte am Sonntag, dass in seiner Zelle die ganze Nacht das Licht gebrannt habe, obwohl er darum gebeten habe, das Licht zu dimmen.

Obwohl die Gefangenensammelstelle im Polizeipräsidium in Essen mehrere Räume besitzt, stand für anwaltliche Gespräche im gesamten Polizeipräsidium Essen zunächst nur ein Raum zur Verfügung. Bei diesem Raum handelte es sich um einen besonders gesicherten Haftraum (bgH). Sowohl bei den anwaltlichen Gesprächen mit den Betroffenen, als z.T. auch bei Wartezeiten auf diese wurden die Anwält*innen in diesen bgH eingeschlossen, weil angeblich kein Personal für die Sicherung vorhanden war. Auch in diesem Raum war die Luft extrem warm und stickig. Da nur dieser eine Raum zur Verfügung stand, mussten wir teilweise Stunden darauf warten, um mit den Betroffenen sprechen zu können. Ein Beamter äußerte im Gespräch mit einem Kollegen wörtlich, es sei ihm “scheißegal”, wieviele Anwälte unten ständen.

Dieses schikanöse Vorgehen der Polizei hat die anwaltiche Tätigkeit erheblich erschwert. Später wurde ein weiterer Raum zur Verfügung gestellt – jedoch ohne Möbel. Die Beratung musste auf dem Boden durchgeführt werden. Auf Besprechungen oder Vorführungen musste teilweise außerhalb des Gebäudes gewartet werden. Der Zugang zu Rechtsbeiständen wurde von einigen Beamt*innen bewusst verschleppt. Auf Intervention durch die Kriminalpolizei wurde der Einlass zunächst gänzlich verweigert. Ebenso lehnte der Empfang des Polizeipräsidiums es ab, eingelegte Rechtsmittel anzunehmen. All dies führte zu Verzögerungen, obwohl es sich um erhebliche Grundrechtseingriffe handelte und daher das Beschleunigungsgebot zu beachten gewesen wäre. Die Polizei zeigte insgesamt kein oder nur ein sehr begrenztes Bewusstsein für die Tragweite der Grundrechtseingriffe, die in einer Ingewahrsamnahme als freiheitsentziehende Maßnahme liegen und missachtete das fundamentale Recht auf anwaltliche Vertretung.

Eine Person im Gewahrsam berichtete uns, sie habe von Beginn an auf eine anwaltliche Vertretung bestanden. Dies wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dass zwei Anwält*innen vor Ort gesagt hätten, sie hätten keine Zeit. Zu diesem Zeitpunkt befand sich jedoch kein*e Anwält*in vor Ort und hat eine solche Aussage auch nicht getätigt.

Fazit:
Trotz des eskalativen Polizeieinsatzes haben wir einen bunten und erfolgreichen Protest erlebt. Die Anreise vieler Parteitagsdelegierten wurde durch friedliche Blockaden verzögert – der lautstarke Protest hat die Delegierten erreicht.
Insgesamt müssen wir jedoch im Hinblick auf die Wahrung fundamentaler, demokratischer Rechte und Freiheiten ein negatives Fazit ziehen:
Die Polizei schien zahlenmäßig bestens darauf vorbereitet, legitimen Protest zu gängeln und zu verhindern, häufig völlig unverhältnismäßig. Auf die Wahrung der Grundrechte, insbesondere im Rahmen der Ingewahrsamnahmen, war die Polizei jedoch gerade nicht vorbereitet, ob bewusst oder unbewusst. In Anbetracht dessen, dass der Freiheitsentzug einen der schwerwiegendsten Grundrechtseingriffe überhaupt darstellt, in diesem Kontext auch noch das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK), den Zugang zu Anwaltspersonen und zu Rechtsmitteln zu verkürzen, und letztlich sogar die Menschenwürde extrem zu beschneiden, zeugt entweder von Gleichgültigkeit oder Unkenntnis. Dies ist erschreckend. Aus unserer Sicht besteht daher dringender Handlungs- und Aufarbeitungsbedarf.«


Ein Gedanke zu “Schikanen und Rechtsverstöße

  • Cop Watch

    Nur zur Erinnerung:

    In einer spontan angesetzten Pressekonferenz im September 2020 hat Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) über ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der Polizei des Bundeslandes informiert. IM Reul zufolge sollen an fünf aufgedeckten rechtsextremen Chat-Gruppen 29 Polizistinnen und Polizisten beteiligt gewesen sein.
    Alle Betroffenen wurden am Morgen suspendiert und gegen alle wurden Disziplinarmaßnahmen eingeleitet. 14 Beamte sollen aus dem Dienst entfernt werden. Laut IM Reul gehören 25 Beamte zum Polizeipräsidium Essen. Polizisten aus Essen und Mülheim an der Ruhr hatten in Chatgruppen u. a. Hakenkreuze und Hitler-Bilder verbreitet.
    Das Ursprungs-Handy habe einem 32-jährigen Beamten der Polizei Essen privat gehört, so die Ermittler. Er wurde eigentlich verdächtigt, Dienstgeheimnisse an einen Journalisten weitergegeben zu haben. Bei der Auswertung seien dann die rechtsextremen Fotos gefunden worden.

    Zuvor hatte der damalige Polizeipräsident Frank Richter seine Ehefrau zur Extremismusbeauftragten der Polizei in Essen/Mülheim gemacht. Einen derartigen Familienklüngel kennen wir sonst nur von der MLPD ;-)
    Leider ist der Artikel hinter einer Paywall verborgen, doch die Überschrift gibt bereits Aufschluss über den Inhalt: https://www.waz.de/staedte/muelheim/article230459428/Nazi-Chats-Muelheimer-Extremismusbeauftragte-war-ahnungslos.html

    In etwa zur gleichen Zeit veröffentlichte die Polizei Essen/Mülheim eine Broschüre mit dem Titel „Arabische Familienclans. Historie. Analyse.“ Eine 20-seitige, unsäglich rassistische Broschüre mit dem Titel „Arabische Familienclans. Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung“ wurde von der Polizei Essen/Mülheim veröffentlicht und bis heute über das Presseportal der Polizei verbreitet. Der Link dazu lautet: https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/11562/4717559.
    Im September 2020 hatte deshalb der SPD-Landtagsabgeordnete Serdar Yüksel die Absetzung von Polizeipräsident Frank Richter durch IM Herbert Reul gefordert.

    Solche Dinge prägen natürlich eine Polizeikultur bzw. Polizist*innenkultur (vgl. https://soztheo.de/soziologie/soziologie-der-gewalt/cop-culture-polizei-vs-polizistenkultur/#polizistenkultur_vs_polizeikultur), die auch nach dem Ausscheiden von Frank Richter weiterlebt und auf folgende Polizeigenerationen übertragen wird.

    Seit Januar 2023 hat übrigens Andreas Stüve die Nachfolge von Frank Richter angetreten. Er gilt als „Experte für Clankriminalität“ und Verfechter einer „Null-Toleranz-Strategie“.

    Den Rest könnt ihr euch denken.

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