Am 19. Februar erinnerte das Kuratorium Stelen der Erinnerung an den Geburtstag von Betti Hartmann, die 1942 als 15jährige Wattenscheiderin in Auschwitz ermordet wurde und schreibt dazu: »Christoph Nitsch machte in seiner Rede deutlich, wie unvorstellbar die Zahlen der Ermordeten sind, sechs Millionen jüdische Menschen, davon eine Million alleine in Auschwitz. Greifbarer wird dieses Verbrechen, wenn man Einzelschicksale betrachtet wie das der Betti Hartmann.
Felix Lipski vom Club Stern, Überlebender des Ghetto in Minsk sprach davon, dass der Kontakt von Betroffenen mit Schülerinnen und Schülern dazu beitragen kann, diese davor zu bewahren, auf nationalistisches Gedankengut hereinzufallen.
Der Geburtstag von Betti Hartmann ist gleichzeitig der Jahrestag der Morde von Hanau, es bleibt eine dringende Aufgabe, die Erinnerung wachzuhalten um eine Wiederholung zu verhindern, mahnte Felix Oekentorp, Vorsitzender des Kuratoriums Stelen der Erinnerung.
Der Blumenstrauß zum Geburtstag wurde unter dem Straßenschild des nach Betti Hartmann benannten Platzes angebracht, so wie es seit Jahren gehandhabt wird.«
Die Rede von Christoph Nitsch:
Liebe antifaschistischen Freundinnen und Freunde, wir treffen uns heute, wie in jedem Jahr hier, um an den Geburtstag von Betti Hartmann zu erinnern. Heute wäre sie 97 Jahre alt geworden, doch ihr Leben wurde bereits mit 15 Jahren von den deutschen Faschisten gewaltsam beendet. Wenn wir uns ihr Foto anschauen, welches unser Freund Felix Lipski dankenswerterweise immer wieder zu unseren Gedenkveranstaltungen mitbringt, so lächelt uns ein freundliches junges Mädchen offen an.
Sehr viel wissen wir nicht über Betti Hartmann, nur, dass sie sehr mutig war – einer bewussten Lüge der deutschen Besatzer folgend, meldete sie sich freiwillig zu einem fiktiven Arbeitseinsatz, um so ihre Familie vor der Deportation zu retten. Wie wir heute wissen, war dies vergeblich, auch ihr Vater wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet. Nur ihre Mutter und ihre beiden Brüder überlebten den Holocaust im Untergrund.
Warum ist die Person Betti Hartmann und ihr Schicksal bis heute für uns so wichtig? Weil sie dem Holocaust, dem unermesslichen Leiden, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, ein Gesicht gibt. Für jene, die diese entsetzliche Zeit nicht miterlebt haben, ist die Shoa etwas, das nahezu unmöglich vorstellbar ist: 6 Millionen Menschen von einem verbrecherischen Regime ausgelöscht, allein 1 Million davon in Auschwitz. Wer ist in der Lage, sich auch nur annähernd 1000 Menschen vorzustellen? Greifbarer wird das Grauen, wenn wir die Stätten des organisierten Massenmordes aufsuchen. Die medizinische Abteilung des KZs Buchenwald – das sind Bilder, die sich in meinen Kopf eingebrannt haben und mich nie wieder verlassen werden. Es schmerzt, wenn heute Holocaustverharmloser straflos behaupten können, es habe niemals Lampenschirme aus Menschenhaut gegeben. Ich habe sie selbst gesehen. Auch das, was ich in Auschwitz-Birkenau gesehen habe, wird mich mein Lebtag nicht verlassen: Berge von Koffern, Brillen, Schuhen und Bündel abgeschnittenen Haares hinter Glas – das, was von ehemals lebendigen Menschen übrig geblieben ist. Diese Dinge stehen stellvertretend für Menschen, deren Leben gewaltsam beendet wurde. Sie stehen für Lebensentwürfe, Perspektiven und Träume, die brutal zerstört wurden. Für Liebe und Hoffnung, für Wissen und Leidenschaft. Und für das Streben nach persönlichem Glück, welches die Faschisten brutal ausgelöscht haben. Kein Mensch weiß, was jene ermordeten Menschen alles hätten schaffen, bewegen und ändern können. Kein Mensch weiß, wie das Leben von Betti Hartmann ausgesehen hätte, wenn es nicht so früh beendet worden wäre.
Bei unseren Versuchen, die Shoa in ihrer Gänze und Komplexität zu verstehen, scheinen uns allen merkwürdigerweise fiktionale Formate eine große Hilfe zu sein: Mit seinem historischen Bio-Pic „Schindlers Liste“ gelang es 1993 Steven Spielberg, die Shoa einem Massenpublikum erklärlicher zu machen: Der starbesetzte Film von einem opportunistischen Unternehmer, der sich zum Retter jüdischer ZwangsarbeiterInnen wandelt. Das erste Mal jedoch, als die deutsche Öffentlichkeit durch die filmische Bearbeitung der Shoa anhand des Schicksals einer Familie zum Nachdenken und Diskurs geradezu aufgeschreckt wurde, geschah dies durch die Serie „Holocaust“. Diese vierteilige Fernsehserie aus dem Jahr 1978 traf Menschen auf der ganzen Welt bis ins Mark und ermöglichte sogar einen hohen Grad an Empathie und Identifikation: So umarmte in den USA eine Fernsehzuschauerin die weibliche Hauptdarstellerin Rosemary Harris mit den Worten: „Frau Weiss, sie leben ja!“
Es mag merkwürdig erscheinen, dass auch mir, der sich nun seit etlichen Jahren mit dem systematischen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden beschäftigt, erst der volle Umfang dessen bewusst wurde, was uns bis heute, und zwar zurecht, durch und durch prägt, als ich eine Folge der britischen Science Fiction-Serie „Dr. Who“ sah. Dort rettet ein nahezu unsterblicher außerirdischer Zeitreisender die Menschheit immer wieder vor außerirdischen Invasoren. Besagte Folge spielte allerdings in einer alternativen Realität, in der der Doktor tot war und drei außerirdische Angriffe Großbritannien verwüstet hatten. Die Regierung hatte die überlebenden Menschen in jene hässlichen Mietskasernen evakuiert, die so typisch für die proletarischen Vororte der britischen Großstädte sind. Nachdem sich die Menschen dort eingelebt hatten und fast so etwas wie ein kleines privates Glück entwickelt hatten, begann die britische Regierung im großen Stil Italiener zu deportieren. Diese Wendung traf mich wie ein Hammer: Deportationen können jeden treffen und es kann jederzeit und an jedem Ort wieder geschehen, wenn nur die gesellschaftlichen Gegebenheiten es zulassen.
Wenn heute wieder in Deutschland, finanziert durch einflussreiche Kreise, sich Rechtsextremisten verschwören, um die Deportation von Millionen von Menschen aus unserem Land zu planen, dann ist das etwas, was wir nicht hinnehmen können. Die zehntausende Menschen, die heute auf den Demos gegen Rechts sich gegen Menschenfeindlichkeit stark machen, sind ein Zeichen, das Hoffnung macht. Doch dies kann nur ein Anfang sein – lasst uns überall und jeden Tag Zeichen gegen Rechts setzen. Zeigen wir Zivilcourage! Mischen wir uns überall ein, wo es uns möglich ist! Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!