Mit einer Mahnwache an der Drehscheibe hat gestern die Seebrücke Bochum auf die kürzlich beschlossenen Asylrechtsverschärfungen aufmerksam gemacht und über die Situation von Geflüchteten an Europas Außengrenzen und vor Ort in den Kommunen informiert. Kritisiert wurden dabei nicht nur die Pläne der AfD, sondern auch die Flüchtlingspolitik der demokratischen Parteien: „Der Druck von der Straße für einen solidarische Politik ist unübersehbar da – wann reagieren die Regierungsparteien endlich und verabschieden sich von ihren Abschottungsplänen, zugunsten einer menschenfreundlichen Politik der Offenheit, die nicht nur moralisch geboten, sondern angesichts von Fachkräftemangel und demographischer Entwicklung sogar wirtschaftlich notwendig ist?“
Darüber hinaus sammelte die Seebrücke Winterkleidung für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, die in einer Unterkunft im Unicenter leben. Eine große Autoladung konnte noch am selben Tag übergeben werden.
Aufgrund einer im Radio verbreiteten Fehlinformation sammelten sich gegen Ende der Mahnwache zahlreiche Menschen in Erwartung einer Demonstration an der Drehscheibe. Da keine Demonstration geplant und vorbereitet war und sich kein:e spontane:r Anmelder:in fand, musste die Versammlung leider aufgelöst werden.
Einen Informationstext, den die Seebrücke während der Mahnwache an interessierte Passanten verteilte, dokumentieren wir hier im Wortlaut:
»Das Asylrecht muss verteidigt werden – ein Europa als Festung stellt auch unsere Grundrechte in Frage
Auch wenn die Nachrichten zuletzt wieder von anderen Themen dominiert wurden, bleibt der Umgang mit geflüchteten Menschen ein zentrales und hitzig diskutiertes Thema. Waren für den Massenzustrom von einer Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen noch Mittel für Wohnungen, Sprachkurse und Integration vorhanden, wird angesichts deutlich geringerer Zahlen von Menschen, die aus anderen Kriegs- und Krisengebieten geflohen sind und Schutz suchen, ein Krisenszenario entworfen.
- Politiker*innen fast aller Parteien rufen nach schnelleren, leichteren Abschiebungen und Verlängerung des Abschiebegewahrsams.
- Es soll zusätzliche Grenzkontrollen gegen „unerlaubte Einreise“ und „Schleuserkriminalität“ geben.
- Ein neuer Überbietungswettbewerb hat eingesetzt: Politiker aus den Parteien der Mitte scheuen sich nicht mehr, die Aufweichung oder gar Abschaffung des Asylrecht zu fordern. Das Asylrecht ist in Artikel 16 des Grundgesetz festgeschrieben – also immer ein Bestandteil des Grundrechtekatalogs unserer Verfassung.
- Selbst „physische Gewalt“ an den Grenzen zur Abwehr von Flüchtlingen wurde schon gefordert (Jens Spahn, CDU).
- Während zwar die Kommunen einerseits eine finanzielle (wenn auch unzureichende) Hilfe für die Unterbringung von Flüchtlingen erhalten sollen, haben andererseits Bund und Länder beschlossen, schneller abzuschieben, Asylverfahren zu verkürzen und kein Bargeld mehr an Flüchtlinge auszuzahlen. Gleichzeitig werden die Mittel für Flüchtlingsberatung gekürzt.
- Die Auslagerung von Asylverfahren in ein afrikanisches Land wird diskutiert.
Im Dezember haben sich EU-Parlament und die EU-Mitgliedstaaten auf einen neuen europäische Asylkompromiss (GEAS) geeinigt:
- Zukünftig sollen Asylanträge in Schnellverfahren an den Grenzen abgewickelt werden und mit möglichst schneller Abschiebung enden. Schutzsuchende gelten als noch nicht eingereist und werden zu Häftlingen in von Stacheldraht umzäunten Lagern – ohne jegliche, z.B. rechtliche, Unterstützung. Auch Kinder und unbegleitete Minderjährige werden davon nicht ausgenommen – entgegen den Versprechungen einiger deutscher Politiker*innen vor den Verhandlungen.
- Damit wird das individuelle Recht auf Asyl weiter ausgehöhlt und gegen die Menschenrechte Geflüchteter wird eklatant verstoßen!
- Auch der Bundestag blieb bei der Beschneidung der Menschenrechte nicht untätig: Das sogenannte „Rückführungsverbesserungsgesetz“ erleichtert Abschiebungen, auch bei Nacht und Nebel, erlaubt den Zugriff auf Mobiltelefone, die Durchsuchung von Unterkünften und bedroht Helfer*innen und Seenotretter*innen mit hohen Gefängnisstrafen.
Was die AfD mit aggressiver und rassistischer Menschenfeindlichkeit vorträgt, wird hier als notwendige „Schutzmaßnahme“ dargestellt und ein Grund- und Menschenrecht gilt als „nicht mehr zeitgemäß“. Anstatt sich dem Rechtsruck entgegen zu stellen, übernehmen die etablierten Parteien das schmutzige Geschäft der Fremdenfeindlichkeit und der Beschneidung von Grundrechten der Schwächsten.
Wem nützt das?
Die demokratiefeindliche AfD freut sich darüber – ob ihre hohen Umfragewerte infolge der Massendemonstrationen der letzten Wochen zurückgehen werden, ist noch nicht sicher.
Aber: Inflation, Energiekrise, Wohnungsmangel, steigende Mieten und zu niedrige Einkommen werden nicht durch Asylrechtsverschärfungen und immer stärkere Abschottung beseitigt werden.
Wem schadet es?
Bei den uns als notwendig verkauften „Lösungen“ wird vergessen, dass es nicht um Zahlen geht, sondern um Menschen, um ihr Recht auf Leben, um Freiheit und Schutz vor Verfolgung, Folter und extremer Not. Wir, die wir solche krassen Überlebensängste zu unserem Glück nicht kennengelernt haben, sollen daran gewöhnt werden, Bildern von notleidenden Menschen an europäischen Außengrenzen nicht „nachgeben“ zu dürfen (Ex-Minister Heiko Maas, SPD, schon 2021 im Tagesthemen-Interview) oder sie „ausschalten“ zu müssen (Kretschmer, Ministerpräsident von Sachsen, CDU).
Das sollte niemandem egal sein!
Aber was macht es mit uns, wenn wir das menschliche Leid, Not und Elend hinter diesen Bildern von Ertrinkenden im Mittelmeer oder teilweise in den Hunger- oder Kältetod Zurückgetriebenen an der polnischen oder kroatischen Grenze verdrängen?
Wie wird sich unsere Gesellschaft verändern, wenn Mitmenschlichkeit und Solidarität ausgeschaltet werden?
„Eine Gesellschaft verändert sich, wenn sie durch gewalttätige, willkürliche und rassistische Grenzregimes von der Außenwelt getrennt und zugleich mit ihr verbunden ist“ schreiben die Politikwissenschaftler Heins und Wolff in den Blättern für deutsche und internationale Politik im Juli letzten Jahres.
Denn nicht nur gegen grundlegende Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention, europäisches Recht und internationales Seerecht (durch die Kriminalisierung privater Seenotrettung) soll verstoßen werden, sondern auch wir als Gesellschaft werden daran gewöhnt werden, immer weniger kontrollierbare Rechtsbrüche, Gewaltanwendung und unterlassene Hilfeleistungen an den Außengrenzen zu ignorieren oder zu dulden. Das wird nur mit einer Medienlandschaft gehen, die über Menschenrechtsverletzungen nicht mehr berichtet, und mit einer Informationspolitik, die verschweigt, was aufgerüsteter Grenzschutz, stärkere Militarisierung von Frontex und zwangsweise Abschiebungen die öffentlichen Haushalte tatsächlich kosten.
Eine aggressive Abschottung nach außen und die Normalisierung menschenfeindlicher Politik werden – schleichend und zunächst unbemerkt – auch einen Wandel des gesellschaftlichen Klimas und der Werteordnung im Inneren der „Festung Europa“ bewirken. Wenn sich Grundrechte (die für alle Menschen gelten), so leicht wegwischen lassen: „Welches elementare Menschenrecht wäre als nächstes dran? Meinungs- oder Versammlungsfreiheit? Recht auf Leben?“ fragt die Frankfurter Rundschau vom 13.09.2023 in ihrem Leitartikel.
Werden wir uns an die Aberkennung von Rechten für bestimmte Menschengruppen gewöhnen müssen?
Werden polizeiliche Kontrolle und autoritäre Ordnungsstrukturen auch im Inneren als nicht mehr unvereinbar mit demokratischen Freiheitsgarantien gesehen werden?
Welche anderen gesellschaftlichen Gruppen könnten demnächst noch als Sündenböcke für Krisen oder Missstände auserkoren werden, diskriminiert und ihrer Rechte beraubt werden?
Gegen eine solche Entwicklung werden wir uns wehren und uns dafür einsetzen, dass Solidarität kein Fremdwort wird.
Für sichere Fluchtwege! Menschen, nicht Grenzen schützen!«