Sehr geehrter Herr Feldmann,
vielen Dank für Ihre Nachricht an Intendant Johan Simons, der mich gebeten hat, Ihnen zu antworten.
Wir respektieren selbstverständlich Ihre Kritik an der Teilnahme von Joschka Fischer an der Veranstaltung „Ein Gast. Eine Stunde“ am 21. Januar 2024. Auch haben wir Ihre Argumente aufmerksam gelesen.
Schon beim damaligen Besuch der Theologin Annette Kurschus in der Reihe „Ein Gast. Eine Stunde“ im Februar 2023 gab es wegen ihrer Haltung im Ukraine-Krieg im Vorfeld Protest vom Bochumer Friedensplenum, der letztlich dazu führte, dass Sie Informationsblätter vor dem Eingang des Theaters verteilen konnten. Dies ist auch diesmal möglich, wenn Sie möchten. In der Veranstaltung selber hat Norbert Lammert damals die Argumente aufgegriffen und Annette Kurschus damit konfrontiert. Dass sie ihre Haltung beibehalten und begründet hat, ist Ausdruck und Teil einer politischen Debatte, wie sie quer durch die demokratische Gesellschaft geführt wird.
Auch die Frage, wie der aktuellen und zukünftigen geopolitische Weltlage aus europäischer und damit auch aus deutscher Sicht begegnet werden sollte, wird in unserem Land diskutiert. Hierauf beziehen sich die Äußerungen von Joschka Fischer im Interview mit der ZEIT vom 03.12.2023. Wer das Gespräch im Originalwortlaut liest, kann darin durchaus die argumentative Zerrissenheit Fischers erkennen – sicher stellvertretend für viele, die eine pazifistische Biografie oder Weltanschauung haben. Aber selbst wenn man diese hintenanstellt und nur Fischers jetziges Votum für eine atomare Aufrüstung in Europa sieht, ist eben die Herleitung dazu gerade von Interesse. Anders ausgedrückt: Die vielschichtige und insofern spannende Biografie Joschka Fischers rechtfertigt, den ehemaligen Bundesaußenminister in die Gesprächsreihe „Ein Gast. Eine Stunde“ einzuladen, weil er einerseits exponiert in zentrale historische, politische Entscheidungen eingebunden war und gleichzeitig Spiegelbild einer – kontroversen – politischen Entwicklung und Debatte in unserem Land ist. Über all das lässt sich miteinander reden, auch bei „Ein Gast. Eine Stunde“; denn selbst wenn das Gesprächsformat vor allem biografische Stationen befragt, ist dabei ebenso Raum für aktuelle politische Fragen. Wir gehen davon aus, dass Norbert Lammert genau diese Punkte zur Sprache bringen wird.
Seit 2018 ist Norbert Lammert so kluger wir prononcierter Gastgeber der Gesprächsreihe „Ein Gast. Eine Stunde“ im Schauspielhaus Bochum. Zu den Gästen des Bundestagspräsidenten a. D. gehörten bisher u. a. der Pianist Igor Levit, die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die Schauspielerin Lina Beckmann, der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck, Musiker Wolf Biermann oder Fernsehmoderatorin Dunja Hayali. Die Auswahl der Gäste erfolgt in enger Abstimmung zwischen Norbert Lammert und dem Theater, und sie zeigt auch, welchem grundsätzlichen Geist sie entspringt. Niemand muss dabei immer und in jedem Fall mit Norbert Lammert oder seinen Gästen einer Meinung sein. Als Anregung und insofern Bereicherung haben wir aber bisher jedes der Gespräche erlebt, so unterschiedlich sie auch gewesen sein mögen. Insofern freuen wir uns auch auf den Dialog zwischen Norbert Lammert und Joschka Fischer im Januar im Schauspielhaus.
Viele Grüße
Vasco Boenisch
Dr. Vasco Boenisch
(er/ihm / he/him)
Künstlerischer Direktor und stellvertretender Intendant / Programme Director and Deputy to the Artistic Director