Durch den Angriff der Hamas auf Israel mit seinen barbarischen Mordaktionen hat der Holocaust eine neue Aktualität erhalten. Bei vielen jüdischen Menschen sind alte Ängste wieder erwacht. Doch auch für uns rückt damit der Holocaust erneut in den Blick. Das aktuelle Geschehen ist für die Initiative Nordbahnhof Anlass, in zwei Vorträgen filmische Versuche der Auseinandersetzung mit Holocaust und Shoah zu thematisieren.
Der Nordbahnhof schreibt: »Dass sich der Zugang des Filmemachers von dem des Historikers unterscheidet, liegt auf der Hand, obwohl die Gegenüberstellung von wissenschaftlicher Arbeit und Narration heute überwunden scheint. Die erhebliche Wirkung des filmischen Erzählens, in der die subjektive Erfahrung des Geschehens eine besondere Rolle spielt, lässt es sinnvoll erscheinen, ergänzend zu den bisherigen stärker wissenschaftlich orientierten Ansätzen in zwei Vorträgen der filmischen Repräsentation historischer Wirklichkeit nachzugehen.
Herzlich laden wir zu den Vorträgen am 22. November und am 13. Dezember (jeweils mittwochs) 18.00 bis 20.00 Uhr ein.
Mittwoch, 22. November 2023, 18-20 Uhr, Dr. Rudolf Tschirbs
Zum Gedächtnis der Shoah: „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955). Einführung, Vorführung (32 min.) und Gespräch.
Dieser Film, in der zweiten Jahreshälfte 1955 in Frankreich produziert, ist mehr als eine Dokumentation: Eher ein Essay, eine Sinfonie aus Bildern, Text (Jean Cayrol/Paul Celan) und Musik (Hanns Eisler): ein Kunstwerk. Und so hat er die Zuschauer seither berührt, mehr noch als Spielbergs „Schindlers Liste“, Benignis „Das Leben ist schön“, Costa-Gavras´ „Der Stellvertreter“. Resnais, für den Schnitt verantwortlich, wählte Sequenzen aus britischem, US-amerikanischem und sowjetischem Material aus, das bei der Öffnung der Lager aufgenommen wurde. Eine klare Gliederung der typischen Abfolge der KZ-Herrschaft, von der Errichtung der Lager bis zu den Morden, beansprucht keine Genese im Sinne einer kausalen Abfolge.
In Cannes 1956 durch Intervention es deutschen Botschafters aus dem Wettbewerb genommen, erlebte der Film alsbald eine beachtliche Aufführungsgeschichte, die aber zunächst an den deutschen Schulen und dem Fernsehen (ZDF am 9. November 1978) vorbeiging. Das Schwarz-Weiß der Vergangenheit wird mit Farbsequenzen aus der Gegenwart (Auschwitz-Birkenau) kontrastiert, die Gefahr der Wiederholbarkeit der grauenvollen Geschehnisse wird nahegelegt.
Die Veranstaltung könnte ein Wiederaufleben der Erinnerungsprozesse an frühere Filmvorführungen bei den Teilnehmern bewirken.
Mittwoch, 13. Dezember 2023, 18-20 Uhr, Referentin Jessica May
Holocaust: Ein US-Melodrama erschüttert im Januar 1979 die Republik – Eine Reflexion aus heutiger Perspektive
Die vierteilige Fernsehserie „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss“ (1978 USA) ist eine NBC-Produktion unter der Regie von Marvin Chomsky, nach einem Drehbuch von Gerald Green. Entstanden ist die Serie als Antwort auf die ABC-Produktion „Roots“.
Mit den Worten von Frank Bösch stellt “Holocaust” einen Wendepunkt sowohl in der deutschen Fernsehgeschichte als auch ein kulturelles Erweckungserlebnis in der deutschen Gesellschaft dar.
Die Serie gab erstmals sowohl Opfern als auch Tätern ein Gesicht. Dem Publikum wurden zwei exemplarische Familien als Identifikationspersonal präsentiert, um ihm die Möglichkeit zu bieten, das individuelle Schicksal hinter dem Massenmord sowie die zunehmende Radikalisierung und Bürokratisierung des NS-Regimes zu verstehen.
“Holocaust” verlagerte die Diskussion über die deutsche NS-Vergangenheit aus dem Elfenbeinturm der geisteswissenschaftlichen Fakultäten an den Küchentisch der Familien. Der Eklat bestand vor allem darin, dass nicht ein sorgsam erarbeitetes Geschichtswerk, sondern eine vierteilige Hollywood-Serie, die historisch teilweise ungenau inszeniert war, die breite deutsche Öffentlichkeit dazu bewegte, Fragen über ihre Vergangenheit zu stellen. In den Worten des Spiegels: “Westdeutschlands Historiker, denen die »Holocaust«-Ausstrahlung zu einem Schwarzen Freitag geworden ist, haben einigen Grund, über Sinn und Nutzen ihrer Arbeit nachzudenken.”
Die US-Serie hat es geschafft, das Unfassbare für ein breites Publikum vorstellbar zu machen. “Holocaust” formt aus dem nationalsozialistischen Geschichtskapitel eine lebendige Szene. Die Serie steht für das Aufkommen eines sich anbahnenden Geschichtsbooms sowie einen neuen historischen Blick “von unten”.
Im Gegensatz zu Filmen wie “Schindlers Liste” oder “Der Junge im gestreiften Pyjama” ist “Holocaust” in der jüngeren Generation nahezu unbekannt, die Frage ist warum?
Der Vortrag will eine Anregung zur Erörterung der sozialen Bedeutsamkeit der Serie “Holocaust” als historisches Melodrama geben. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwieweit eine ästhetische Darstellung des Holocaust ethisch vertretbar ist und welche Rolle die “deutsche Schuld” in der Darstellungsfreiheit auch von deutschen Regisseuren spielt.«