Montag 05.06.23, 20:00 Uhr

Der Brandanschlag von Hattingen 1993


Solidaritäts-Demonstration 1993

Das Politcafé Azzoncao schreibt: »Heute, am 5. Juni 2023, jährt sich der Brand in der Hattinger Unionstraße zum 30. Mal. Bei diesem Brand unweit des Hattinger Hüttengeländes brannte das Erdgeschoss des einstöckigen Hauses völlig aus. An unterschiedlichen Stellen waren im Haus Brände gelegt worden, in dem eine sechsköpfige Familie schlief. Der kleine Osman (3 Jahre) der Familie Ü. war in der Nacht aufgewacht. Ihn hatte ein Geruch geängstigt. Er weckte seine Mutter, die sofort den Brandgeruch erkannte und sich mit den anderen Familienangehörigen aus dem Haus rettete.

Dies war am 5. Juni 1993, zu Anfang der 90er Jahre. In der Zeit der explodierenden rechten Gewalt. Der rassistischen Pogrome von Hoyerswerda (1991), Mannheim-Schönau (1992) und Rostock-Lichtenhagen (1992). Der faschistischen Morden an Amadeu Antonio (Eberswalde, 1990), Thorsten Lamprecht (Magdeburg, 1992), Frank Böhnisch (Koblenz, 1992), Silvio Meier (Berlin, 1992) und vielen anderen Menschen, die den Faschisten nicht in ihr Weltbild passten. Und der rassistischen Brandanschläge, wie in dem nordrhein-westfälischen Hünxe (03.10.1990), dem schleswig-holsteinischen Mölln (23.11.1992) mit drei Ermordeten und dem 20 Kilometer entfernten Solingen fünf Tage zuvor mit fünf toten türkischen Mädchen und Frauen am 29. Mai 1993. Und es war zwei Wochen nach der Grundgesetzänderung und Verschärfung des Asylverfahrensrechts – einem Resultat jahrelanger Hetze gegen MigrantInnen und Flüchtlinge und gegen das humanistische und demokratische Recht auf Asyl.

Bis heute gehen zahlreiche BeobachterInnen des Geschehens davon aus, dass es sich um einen rassistischen Brandanschlag handelte, dass die Ermittlungsbehörden nicht gegen Rechts und einseitig zu Lasten der türkischen Mutter ermittelten und dass die angewandte Ermittlungsstrategie zu dem in den 90er Jahren einsetzenden Masternarrativ der staatlichen Behörden und vieler Medien gehörte, die Opfer zu TäterInnen zu erklären. Eine Entlastungsstrategie und -erzählung für Staat und Gesellschaft, die von der virulenten Inhumanität und den grassierenden Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft ablenken soll.

Im benachbarten Hattingen waren die Vorgänge wie folgt: Die türkisch-stämmige Familie konnte in der Tatnacht den Flammen entkommen. Galt ihr anfangs noch eine breite Solidarität in Hattingen, brach diese in der Bevölkerung schnell zusammen, als die Ermittlungsbehörden ein Ermittlungs­verfahren gegen die türkische Mutter einleitete. Dabei gingen die Behörden den Spuren nach Rechts bewusst nicht nach, sondern lenkten den Verdacht gezielt auf die türkische Frau. Frau Ü. wurde angeklagt und es kam im Februar 1996 zu einem Strafverfahren vor dem Essener Landgericht. In diesem Prozess erwiesen sich alle Vorwürfe gegen sie als haltlos. Sie wurde ohne „wenn und aber“ von den Vorwürfen, das Haus angezündet zu haben freigesprochen. War die Familie den mörderischen Flammen entkommen, dem bösen Atem der rassistischen Verdächtig­ungen aus Hattingen entkam sie nicht. In Hattingen selbst hatte die Gerüchteküche und ihre ZuarbeiterInnen aus Politik, Behörden und Gesellschaft ganze Arbeit geleistet. Das Leben wurde für die Familie zum Spießrutenlaufen und einer Tortur. Sie zog nach Duisburg. Von dort floh sie vor dem schleichenden Rufmord in die Türkei. Aber auch hierhin ist ihr der böse Atem der Hattinger Gerüchteküche gefolgt. Bis heute leidet sie unter dem Stigma unehrenhafte Lügner und Betrüger zu sein. Hatte der Brandanschlag zum Ziel, sie zu vertreiben und ihr Leben zu ruinieren – so hat er sein Ziel erreicht. Die Brandstifter konnten und können sich auf die Biedermänner und die toxischen Mechanismen der deutschen Gesellschaft verlassen.


Aus gegebenen Anlass hat Wolfgang Heiermann, der damalige Rechtsanwalt von Frau Ü. einen Text zum 30. Jahrestag der Brandstiftung verfasst:

Deutsche sollen nicht die Täter sein

Der Brandanschlag auf die Familie Ü. jährt sich am 5. Juni 1993 zum 30. Mal. Eine Woche nach dem mörderischen rassistischen Anschlag von Solingen brannte das Haus der Familie Ü. in der benachbarten Stadt Hattingen. Fünf Kinder und die Mutter konnten sich aus dem brennenden Haus retten.

Das öffentliche Entsetzen über einen neuerlichen Anschlag dauert nicht mal einen Tag, die Suche nach Tätern hatte kaum begonnen, da wurden die Ermittlungen umgekehrt: Verfolgt wurde nun die Mutter der fünf Kinder, sie sollte ihr eigenes Haus angezündet haben. Die angeblichen Motive: Sie wollte die Versicherung abkassieren und noch infamer war, sie soll nach dem Anschlag von Solingen auf lukrativen Spenden der Bevölkerung gehofft haben.

Auf diesen reinen Spekulationen beruhten auch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft. Frau Ü. wurde angeklagt, ihre Familie massiv gefährdet und das Haus bewusst angesteckt zu haben.

Das Opfer wurde zur Täterin gemacht mit allen sozialen Diskriminierungen und Ausgrenzungen. Die Familie verließ Hattingen.

Diese Strategie – damals noch relativ neu – setzte sich später oft in der Öffentlichkeit und bei den Staatsanwaltschaften durch. Die Opfer bzw. die Angehörigen der Opfer wurden als Täter:innen ins Auge gefasst, vernommen, ihre Wohnungen durchsucht, Unterlagen beschlagnahmt.

Die Suche nach rassistischen Tätern nicht einmal halbherzig vorgenommen. Deutsche sollen nicht die Täter sein.

Am 20.2.1996 begann der Prozess gegen Frau Ü. vor dem Landgericht in Essen, sie wurde nach mehreren Prozesstagen freigesprochen, ohne wenn und aber. Nach verdächtigen Personen wurde auch danach nicht einmal gesucht. Die Familie Ü. verließ anschließend Deutschland.

Einen Monat zuvor, am 18. Januar 1996, war das Haus von Geflüchteten in der Lübecker Hafenstraße Ziel eines rassistischen Mordanschlages gewesen. 10 Menschen starben durch die Flammen. Schon kurz nach der Tat wurde Safwan E. – selbst Bewohner des Hauses – verdächtigt, den Brand mit Benzin gelegt zu haben. Die schon eingespielte Opfer – Täter Verdrehung brachte ihn in Untersuchungshaft. Ein Rettungssanitäter wollte von ihm noch auf dem Weg ins Krankenhaus gehört haben: „ wir waren s“. Nach monatelanger U-Haft wird Safwan E. frei­gesprochen. Ermittlungen gegen drei Tatverdächtige aus Grevesmühlen werden nicht wieder aufgenommen, selbst das Geständnis eines Verdächtigen vor einem hohen Justizbeamten ignoriert die Justiz. Die Morde sind ungesühnt: Deutsche sollen nicht die Täter sein.

Die Mordserie des NSU in den Jahren 2000 bis 2006 ist noch allen im Gedächtnis, neun rassistische Morde und zwei Sprengstoffanschläge mit vielen Schwerverletzten bleiben bis zur Selbstenttarnung der Täter:innen im Jahre 2011 unaufgeklärt. Es ist der vorläufige Höhepunkt der Opfer – Täter Verdrehung, denn alle Angehörigen der Opfer bzw. die Opfer selbst wurden jahrelang in den Focus der Ermittlungen genommen, massiv unter Druck gesetzt und einer unerträglichen psychischen Belastung ausgesetzt. Das ist wohl der Preis dafür, dass Deutsche nicht die Täter sein sollen, dass Rassismus in der deutschen Gesellschaft verleugnet und bagatellisiert wird – auch heute noch.

Wir müssen den Betroffenen zuhören, sie besuchen und unterstützen, um sie vor den staatlichen Angriffen nach rassistischen Taten schützen zu können.

Wolfgang Heiermann,
ehemaliger Verteidiger von Frau Ü. und
Mitglied der „Initiative Keupstrasse ist überall“


Im Jahr 2013 veröffentlichten wir zum ersten Mal ein Interview, Hintergrund-Informationen und Verweise zu dem Brandanschlag in Hattingen. Auch auf bo-alternativ erschienen diese Texte im Jahr 2018 schon einmal. (https://www.bo-alternativ.de/2018/06/05/hattingen-1993-rassistischer-brandanschlag-vor-25-jahren) Die Präsenz rassistischer Polizeiarbeit soll hier noch mal vor Augen geführt werden. Denn nach Bertolt Brecht:

Der Schoß ist fruchtbar noch!

Ihr aber lernet, wie man sieht statt stiert
Und handelt, statt zu reden noch und noch.
So was hätt einmal fast die Welt regiert!
Die Völker wurden seiner Herr, jedoch
Dass keiner uns zu früh da triumphiert
Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!