Donnerstag 09.03.23, 21:38 Uhr
Demonstration zum feministischen Kampftag am 7. 3. 2023

Redebeitrag der Seebrücke


Liebe solidarische Menschen, wie in den vergangenen Jahren werden wir von der Seebrücke Bochum auch in diesem Jahr die vielen unerträglichen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Flucht und Asyl anprangern. Auch in diesem Jahr werden wir in unserem Redebeitrag sexualisierte Gewalt thematisieren – daher hier eine Triggerwarnung.

Im Grunde könnten wir unseren ersten Redebeitrag immer wieder wiederholen, denn nichts, aber auch gar nichts hat sich verbessert – im Gegenteil. Das Motto der diesjährigen Feministischen Aktionswochen lautet „unruhig bleiben“. So wollen auch wir unruhig bleiben, bis die eigentlich universell gültigen Menschenrechte auch für alle Menschen gelten, bis die EU für sichere Fluchtwege sorgt, bis die Kriminalisierung von Seenotretter*innen aufhört und bis die gewalttätigen und unerträglichen Zustände an den EU-Außengrenzen und in den menschenverachtenden Lagern wie z.B. auf Lesbos, im Bosnischen Lipa oder in Libyen endlich ein Ende haben.

Die Seebrücken-Bewegung entstand 2018 spontan, nachdem im Juni 2018 das Rettungsschiff von Mission Lifeline mit 234 Geretteten an Bord tagelang daran gehindert wurde, in einen sicheren Hafen einzulaufen. Besatzungsmitglieder ziviler Rettungsschiffe wurden und werden kriminalisiert und in absurden Prozessen zu hohen Geldstrafen verurteilt, teilweise drohen Gefängnisstrafen. Was oft nicht bekannt ist: Auch willkürlich ausgewählte Geflüchteten, die versuchen, eines der oft see- und manövrierunfähigen Boote zu steuern, werden an Land von den griechischen Behörden inhaftiert und teilweise zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ihnen wird Beihilfe zur illegalen Einreise vorgeworfen, obwohl sie selbst geflüchtet sind. Wenn sie mit ihren Kindern fliehen, wird ihnen Kindeswohlgefährdung vorgeworfen, was völlig absurd ist, da diese Menschen ihre Kinder vor Krieg und Elend retten wollen. Gerade der letzte Vorwurf trifft häufig Frauen, die oft allein mit ihren Kindern fliehen.

Die eigentlich Verantwortlichen für die gefährlichen und oft tödlichen Fluchtwege, auf die die Menschen gezwungen werden, werden nicht zur Verantwortung gezogen. Doch wir wollen unruhig bleiben, wir benennen die Verantwortlichen: Es ist die EU mit ihren Mitgliedsstaaten und mit ihrer Grenzschutzagentur Frontex!

Gestorben und gelitten wird nicht nur auf dem Mittelmeer: verdursten in der Sahara, verrecken in Folterlagern und vergessen werden auf Lesbos, zusammengschlagen an der bosnisch-kroatischen Grenze, Menschenhandel, illegale Pushbacks, in Baracken rechtswidrig eingekerkerte Menschen … und die von der EU und somit auch von uns mitfinanzierte Agentur Frontex ist vielfach mit dabei. Dagegen lohnt es sich jeden Tag unruhig zu bleiben!

Auch wenn wir uns in den letzten Jahren zunehmend mit anderen Themen rund um Flucht und Asyl beschäftigen mussten, bleibt die Situation auf dem Mittelmeer tödlich. Weiterhin ertrinken jedes Jahr tausende Menschen auf ihrem Weg übers Mittelmeer. Erst kürzlich ertranken bei einem Bootsunglück auf dem Mittelmeer mind. 60 Menschen, darunter 11 Kinder und 1 Neugeborenes. Die Betroffenheit der Verantwortlichen in der EU aber auch in der italienischen Rechts-Regierung, die zeitgleich die Arbeit der zivilen Seenotrettung weiter erschwert, ist zum Kotzen heuchlerisch!

Haben wir uns an diese Menschenrechtsverletzungen gewöhnt? Wo bleibt der große Aufschrei angesichts der vielfältigen Menschenrechtsverletzungen? Wir fordern euch auf, liebe Mitstreiter*innen: BLEIBT UNRUHIG!

Weltweit sind mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht, mindestens die Hälfte von ihnen sind FLINTA. Sie fliehen vor politischer oder religiöser Unterdrückung, Krieg, Umweltzerstörung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, aber auch vor geschlechtsspezifischer Unterdrückung, sexueller und häuslicher Gewalt, Zwangsverheiratung, Polygamie, Witwenverbrennung und Genitalverstümmelung – oder weil sie Angst haben, dass ihre Kinder das gleiche Schicksal erleiden. Weitere Fluchtgründe sind die systematische Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung oder die Verfolgung von Inter- und Transmenschen. FLINTA sind überproportional von Hunger und Armut sowie den Auswirkungen des Klimawandels betroffen.

Der brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat es erneut gezeigt: Systematische Vergewaltigung war und ist eine häufig angewandte Kriegsstrategie und wurde erst 2008 von den Vereinten Nationen als Kriegsverbrechen anerkannt.

KRIEG WURDE UND WIRD AUCH IMMER AUF DEN KÖRPERN VON FLINTA AUSGETRAGEN!

FLINTA, die vor geschlechtsspezifischer Gewalt in ihren Heimatländern fliehen, sind auf der Flucht sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Etwa 30 Prozent der Frauen auf der Flucht berichten von Vergewaltigungen (die Dunkelziffer liegt deutlich höher), Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass etwa jedes vierte auf der Flucht geborene Kind das Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Schwangerschaft und Geburt unter Fluchtbedingungen sind für die Betroffenen lebensgefährlich. Am Ende der Flucht warten Zuhälter und Menschenhändler an den Grenzen und in den Lagern – auch das wurde uns im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wieder vor Augen geführt.

Das, liebe Mitstreiter*innen, geht uns alle an! Feminismus muss für alle gelten. Empören wir uns über die menschenunwürdigen Zustände auf der Flucht und an den EU-Außengrenzen, die FLINTA besonders hart treffen, genauso wie über patriarchale Strukturen in unserem Umfeld!

Wir fordern

  • die sofortige Evakuierung aller Menschen aus den menschenunwürdigen Lagern an den EU-Außengrenzen und in Libyen
  • die Schaffung sicherer Fluchtwege für alle Menschen – kein Ertrinken im Mittelmeer, kein Verdursten in der Wüste, kein Verrecken in überfüllten Lagern und Foltercamps
  • keine Unterbringung von FLINTA in Sammelunterkünften und ANKER-Zentren

spezielle Schutzräume für geflüchtete FLINTA und Kinder

  • die Umsetzung der vom Bundesministerium für Senioren, Frauen und Jugend bereits vor Jahren erarbeiteten Mindeststandards zum Gewaltschutz in Gemeinschaftsunterkünften
  • Zugang zu medizinischer, psychologischer und psychosozialer Unterstützung für geflüchtete Frauen
  • menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen, keine Sammelunterbringung in Turnhallen etc. schon gar nicht für FLINTA und Minderjährige
  • Und wie jedes Jahr: Wir haben Platz! Bochum hat Platz!

Aber machen wir uns nichts vor: Sexualisierte Gewalt ist allgegenwärtig, wie Medica Mondiale in dem Dossier „Frauen und Flucht“ darlegt, es handelt es sich um ein Gewaltkontinuum, dem FLINTA in Kriegs- wie in Friedenszeiten ausgesetzt sind.

Daher gilt:

ES GIBT FÜR FRAUEN, MÄDCHEN, ABER AUCH FÜR MENSCHEN, DIE SICH NICHT IN EIN BINÄRES GESCHLECHTERMODELL PRESSEN LASSEN, KEIN SICHERES HERKUNFTSLAND!

Lasst uns gemeinsam und solidarisch unruhig bleiben und für einen Feminismus kämpfen, der für alle Menschen gilt. Vielen Dank