Donnerstag 12.01.23, 21:07 Uhr

Jobcenter: An der Abbruchkante


von Norbert Hermann für Bochum-Prekär

Entgegen dem Trend in der Wissenschaft und in Nachbarorten zieht sich das Jobcenter Bochum zunehmend aus der Fläche, aus den „Sozialräumen“, zurück: Nach Schließung der Standorte in Gerthe und Querenburg soll zum Jahresende auch der Standort Südwest in Linden geschlossen werden. Die reine Abgabe von Unterlagen wie der Heizkostenabrechnung, Gehaltsabrechnung …  usw. (natürlich immer mit Anschreiben und gegen Empfangsbestätigung) kostet dann sechs Euro mit Bus und Bahn. Mit dem eh zu knappen Regelsatz nicht finanzierbar. Die in Corona-Zeiten eingeführte (und erfolgreiche) direkte telefonische Erreichbarkeit der Standorte fällt auch weg, wo es keine Standorte mehr gibt.

Das Jobcenter Bochum, Personal immer „auf Kante genäht“, muss wohl den Gürtel enger schnallen? Mit „Bürger*innennähe“ und „Sozialer Stadt“ ist das nicht vereinbar. Andere Städte richten gar zusätzliche „Info-Points“ ein, wo Anträge und Unterlagen eingereicht und Unterlagen kopiert oder ausgedruckt werden können, das Internet zur Stellensuche genutzt und eine Kurzberatung durchgeführt werden kann.

Die Zahl der Hartz IV-Abhängigen in Bochum ist mit 62,076 Menschen unverändert hoch, davon zählen allerdings nur 19.485 als arbeitslos, 30,1% davon sind 50 Jahre und älter, 8,3% Schwerbehinderte, 49,2% langzeitarbeitslos (1). Die Zahlen werden sich auch in Zukunft nicht wesentlich verändern. Die „Ausländer-“ Quote liegt im Rechtskreis SGB III/Arbeitslosengeld I mit 3% weit unter ihrem Bevölkerungsanteil, im Rechtskreis SGB II/Hartz IV mit 21,3% weit darüber. Die Wissenschaft nennt das „Unterschichtung des Arbeitsmarktes“ oder „Arbeitskräftereserve“.

Das Jobcenter, ebenso wie die zu 50% mitverantwortliche Stadt Bochum, haben hier immer noch eine große soziale Verantwortung. Leider sind es nur die Ex-AFDler von der FFB, die das für den kommenden Mittwoch auf die Sitzung des Sozialausschusses gebracht haben.

Sozialbehörden wie die gesamte „Soziale Arbeit“ im weitesten Sinne haben natürlich immer einen widersprüchlichen Geschmack: Die Löhne reichen nicht, um die Arbeitskräfte und ihre Familien ausreichend zu (re-)produzieren und ggf. am Leben zu halten. Also müssen Steuererleichterungen (Fahrtkosten, Arbeitnehmerfreibetrag …) und ergänzende „Sozialleistungen“ (Kindergeld, Wohngeld, Rentenversicherung, Arbeitslosengeld, Hartz IV, Altersgrundsicherung, Sozialhilfe und und und) her. Soziale Netzwerke und Familienverbände, die das in früheren Zeiten (schlecht oder recht) gewährt haben, gibt es in Zeiten der „Flexibilität“ und Vereinzelung nicht mehr. So gesehen sind bürger*innennahe und „starke“ Sozialbehörden überlebenswichtig. Auf der anderen Seite hat dieser ganze Sozialklimbim natürlich auch eine große Kontrollfunktion. Besonders gilt das für die Arbeitsverwaltung: Sie hat die Aufgabe, Arbeitskräfte in ausreichender Zahl und Qualifikation zur Verfügung zu stellen und auch gefügig zu halten. Gegebenenfalls steht auch mal „Jonny Controlletti“ mit unangekündigten und unerwünschten Heimsuchungen („aufsuchende Arbeit“) auf der Matte. „Fragen sie die Kund*innen doch mal nach ihrem Lieblingscafe“ lautete der Vorschlag eines Jobcenter-Leiters. „Hartz IV-Abhängige gehen nicht ins Cafe!“ lautete die Antwort. „Aber doch die Caritas … “ kam es zurück. Da sollen sie uns aber von der Pelle bleiben! Wenn sich das Jobcenter aus der Fläche zurückzieht, kann das so gesehen auch von Vorteil sein. Persönliche soziale Betreuung von unterstützungsbedürftigen Menschen, insbesondere auch von Jugendlichen, darf nur freiwillig und unabhängig von der Stelle erfolgen, die für finanzielle Leistungen und ggf. Sanktionen zuständig ist. So ein Grundsatz der Sozialen Arbeit. Auch die reine Existenzsicherung sollte unabhängig und unbeeinflusst geschehen.

„Vermittlung“ findet beim Jobcenter Bochum auch statt. Jeder einzelne Fall wird groß an die Medien gebracht: „64jähriger Bochumer findet mit Unterstützung des Jobcenters eine neue Arbeit“ (https://jobcenter-bochum.de/ueber-uns/presse – 02.01.2023). Der Jobcenter-Arbeitskräftemarkt ist aber durchaus „dynamisch“: Zwar gab es  in 2022 26.071 Neuzugänge, aber auch 27.181 „Abgänge“. Darunter in Erwerbstätigkeit (welcher Art?) ca. 4.000 Personen und ca. 6.000 Personen in Ausbildung oder sonstige Maßnahme (?). Der Rest wohl nach außerorts, in (vorübergehende) Arbeitsunfähigkeit, in Rente oder gleich auf den Friedhof.

Neben der Fütterung des Arbeitskräftemarktes hatte das alte „Arbeitsamt“ auch die Aufgabe, im Kriegsfall die notwendigen „Fachkräfte“ und Ressourcen, beispielsweise Transportmittel und Produktionsstätten, zur Verfügung zu halten. Diese Aufgabe hat die Arbeitsagentur heute so „offiziell“ nicht mehr, wäre aber durchaus dazu in der Lage. Angesichts der bedrohlichen Lage in Osteuropa wäre auch hier eine prophylaktische Personalaufstockung von Nöten. Und  für die potentiell Betroffenen eine geeignete Exit-Strategie!

Norbert Hermann für Bochum-Prekär

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(1) Arbeitsmarktreport Stadt Bochum12/2022: https://www.arbeitsagentur.de/vor-ort/bochum/statistik

Mal hinter die Kulissen schauen:

Veröffentlichung der ver.di-Gruppe im Hauptpersonalrat der Bundesagentur für Arbeit

https://sozialversicherung.verdi.de/++file++63975d6d3849ea5fc9a7bac3/download/verdi-Sozialversicherung_BA-HPR-aktuell_News-2022-12.pdf

Bundesarbeitskreis Jobcenter: Resolution zum Bürgergeld

https://sozialversicherung.verdi.de/fachvorstand/bundesagentur-fuer-arbeit/jobcenter/++co++6b4de744-7174-11ed-8221-001a4a160100

Jobcenter: Personalräte für mehr Stellen und bessere Arbeitsbedingungen (von 2011!)

https://www.verdi.de/presse/pressemitteilungen/++co++1ffd6a66-1b41-11e1-660f-0019b9e321cd