Sonntag 04.12.22, 17:29 Uhr
Demonstration "Genug ist Genug" am 3. 12. 2022 in Bochum

Redebeitrag von Elias Bala von der Bezirksschüler*innenvertretung Bochum


Jedes fünfte Kind ist, laut dem Deutschen Kinderhilfswerk, von Armut betroffen [1]. Das bedeutet für Bochum: Von den 47.000 Schüler*innen unserer Stadt sind 9.400 arm. Armut heißt: 9.400 Schüler*innen können sich nicht ausreichend ernähren, weil ihnen die Mittel dazu fehlen. Der Warenkorb bei Hartz IV neuerdings Bürgergeld ist unzureichend bemessen und auch andere Unterstützungsleistungen drohen auszufallen. Die Tafel in Bochum und vielen anderen Städten nehmen gegenwärtig niemanden mehr auf. Den Kindern und Jugendlichen droht Mangelernährung mit Folgen wie Wachstumsverzögerung und einer eingeschränkten kognitiven Entwicklung [2]. Ernährungsarmut wirkt sich unmittelbar auf die Bildungschancen aus, ohne ausreichende und gesunde Ernährung kann niemand entspannt lernen.


Armut heißt: 9.400 Schüler*innen sind in diesen Winter von Energiearmut bedroht. Ihr Zimmer, wenn sie denn über ein eigenes verfügen, kann nicht ausreichend beheizt werden. Wird armen Familien der Strom abgestellt, können die Kinder ihre Hausaufgaben in dieser Jahreszeit, in der dunklen und kalten Wohnung nicht konzentriert erledigen. Armut heißt: 9.400 Schüler*innen sind von vielen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung ausgeschlossen, weil sich ihre Eltern, selbst wenn sie arbeiten, diese oft nicht leisten können.
Armut heißt, dass viele Schüler*innen in Bochum unter Stress und Unsicherheit leben, das kann sie körperlich und psychisch krank machen. Kinderarmut ist strukturelle Gewalt. Kinder und Schüler*innen gehören zu den größten Verlierer*innen der gegenwärtigen Krisen. Doch diese Krisen haben ihre Armut nicht ausgelöst, sondern sie verstärken sie. Selbst die neoliberale Bertelsmann Stiftung stellt fest: „Die Kinder- und Jugendarmut verharrt seit Jahren auf […] hohe[m] Niveau. Trotz langer guter wirtschaftlicher Entwicklung sind die Zahlen kaum zurückgegangen. Kinderarmut ist seit Jahren ein ungelöstes strukturelles Problem in Deutschland.“ [3] Dieses Problem wird durch die gegenwärtigen politischen Entscheidungen noch immer nicht gelöst: Moderate Verbesserungen beim Bürgergeld, die im politischen Prozess noch weiter verwässert wurden, werden die Notlage der 9.400 von Armut betroffenen Schüler*innen in Bochum nicht substanziell verbessern. Wie sollen Schüler*innen unter diesen Bedingungen lernen? Ihre Zukunft ist ungewiss, Armut führt zu Armut. Da hilft es auch nichts, wenn von Anhängern des Leistungsprinzips behauptet wird, Bildung führe zu sozialem Aufstieg. Dem hält der spanische Soziologe César Rendueles entgegen: „Die Anhänger des Leistungsprinzips glauben, dass das egalitäre Potenzial der Bildung in ihrer Fähigkeit besteht, den Armen Waffen an die Hand zu geben, mit denen sie auf den Schlachtfeldern des Sozialdarwinismus konkurrieren können. Das ist komplett falsch.“ [4] Selbst wer gut ausgebildet ist, kann in einem schlecht bezahlten Job gefangen sein. Seit Jahren sinkende Reallöhne führen dazu, dass auch gut ausgebildete und arbeitende Menschen nicht genug zum Leben haben und armutsgefährdet sind. Leistung schützt nicht vor Armut: Leisten etwa gering verdienende Menschen weniger oder werden sie nur schlechter für ihre Arbeit bezahlt? Noch immer entscheidet über den Berufsweg weniger die individuelle Leistung von Schüler*innen, sondern zu einem großen Teil der Geldbeutel der Eltern.
Was wir also brauchen, ist erstens Bildung, weil sie eine unersetzliche Stütze der Demokratie ist, und zweitens Arbeit, von der man in Würde leben kann.
9400 arme Schüler*innen in Bochum, das kann nicht die Welt sein, in der wir leben wollen. Aber es ist die, in der wir leben und das bedeutet: Nicht resignieren, sondern die Stimme erheben und laut sagen GENUG IST GENUG!

Quellen:
[1] https://www.dkhw.de/schwerpunkte/kinderarmut-in-deutschland/
[2] Biesalski, Hans Konrad. „Ernährungsarmut bei Kindern – Ursachen, Folgen, COVID-19“. Aktuelle Ernährungsmedizin 46, Nr. 05 (Oktober 2021): 317–32. https://doi.org/10.1055/a-1553-3202.
[3] https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/291_2020_BST_Facsheet_Kinderarmut_SGB-II_Daten__ID967.pdf
[4] Rendueles, César. Gegen Chancengleichheit: ein egalitaristisches Pamphlet. Übersetzt von Raul Zelik. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 265.