Freitag 01.04.22, 20:24 Uhr
Kristin Schwierz für den Radentscheid Bochum auf der Sitzung des Bochumer Rates am 1.4. 2022

Das ist Radverkehrsverhinderungspolitik


Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrte Ratsmitglieder,
liebe Zuschauer:innen und Interessierte,
liebe Mitstreiter:innen,

bei dieser Ratssitzung heute wird über die Zulässigkeit des RadEntscheids abgestimmt. Die Verwaltung hat dem Rat empfohlen, ihn für unzulässig zu erklären. Sie stützt sich auf das Gutachten eines Verwaltungsrechtsexperten, der bereits den RadEntscheid in Bielefeld als unzulässig einstufte. Es handelt sich hier um eine Rechtsauffassung, der man so folgen, die man aber auch in Frage stellen kann. Beispiele für andere Rechtsauffassungen sind etwa ein Gegengutachten im Falle Bielefelds und die Begründung, mit der der Rat der Stadt Aachen den dortigen RadEntscheid für zulässig erklärte. Dort wurden die Ziele des RadEntscheids mit großer Ratsmehrheit abgestimmt, genauso wie in Bonn, Essen und Marl. In Bielefeld einigte man sich in einem Vertrag auf die Ziele des RadEntscheids. Alle genannten Bürgerbegehren ähneln dem RadEntscheid in Bochum in Form und Inhalt.

Es ist nicht nur so, dass der RadEntscheid im Bochumer Rat offenbar keine politischen Mehrheiten findet. Wir sind mit diesem RadEntscheid hier in Bochum nach Ansicht der Verwaltung – und aller Voraussicht auch nach Ansicht der Ratsmehrheit – formaljuristisch auch nicht im Recht, die Bürger:innen darüber abstimmen zu lassen, ob die Stadt Bochum die verkehrspolitischen Ziele umsetzen soll, die wir im Bürgerbegehren benannt haben.

Es ist schon traurig, dass sich die Stadt hier nun auf Formaljuristisches zurückzieht, denn uns allen sollte es im Kern doch nicht darum gehen, wer hier formal Recht hat oder nicht. Uns allen sollte es doch um das Recht für alle Bewohner:innen dieser Stadt gehen, gleichermaßen an der Mobilität teilzuhaben und sich dabei sicher fühlen zu können. Der Ausbau der Radinfrastruktur ist ein wichtiger Baustein dafür. Eine weitere Priorisierung des Autoverkehrs eben nicht. Und – man muss es immer wieder ganz klar sagen, obwohl es allen bekannt sein dürfte: Ein schneller Ausbau von Radwegen ist alternativlos, wollen wir eine Klimawende noch erreichen. Der Autoverkehr ist immer noch der drittgrößte Verursacher von Treibhausgasemissionen in Deutschland.

Erklärtes Ziel der Stadt Bochum – so steht es in ihrem „Leitbild Mobilität“: „Bis 2030 könnte der Anteil des Motorisierten Individualverkehrs auf 40 Prozent sinken.“ Der Anteil des Umweltverbunds soll also demnach auf 60% steigen. Die Arbeitsgemeinschaft Fahrradfreundlicher Städte, in der Bochum Mitglied ist, formuliert als Ziel, den Anteil des Radverkehrs auf 25% zu erhöhen. Zum Vergleich: 2018 lag der Anteil des Radverkehrs in Bochum bei 6,7%.

Von 1100 Straßenkilometern sind schätzungsweise 215 sogenannte „Radwege“, davon 141 kombinierte Fuß-und Radwege, nur circa 64 Kilometer sind echte Radfahrwege. Bochum ist immer noch Autostadt.

Und noch ein Fakt dazu: 2021 lag die Anzahl der verunglückten Fahrrad-und Pedelecfahrenden offiziell bei 222 Verunglückten. Dahinter verbergen sich Menschen mit zum Teil schweren Verletzungen. Es ist somit eindeutig gefährlich, mit dem Rad in Bochum unterwegs zu sein. Erst im Oktober 2021 und im Januar 2022 sind zwei Radfahrende bei einem Unfall mit einem Auto in Bochum getötet worden. Das können und wollen wir nicht hinnehmen!

Damit sich das endlich ändert, haben wir als Bewohner:innen dieser Stadt 2020 also selbst die Initiative ergriffen: Wir haben in Vollversammlungen und Arbeitsgruppen gemeinsam die Ziele für das Bürgerbegehren erarbeitet, wir haben ein vielfältiges und großes Netzwerk mit über 100 Unterstützern aus der Stadtgesellschaft aufgebaut, darunter Gewerbetreibende, Sozialverbände, das Schauspielhaus oder die Evangelische Hochschule. Wir haben an den Infoständen sicherlich mehrere tausend kurze und längere Gespräche mit Bochumer:innen zur Radinfrastruktur geführt. Wir haben für das Thema Radverkehr in Bochum eine noch breitere lokale Öffentlichkeit geschaffen. Und auch wenn das Rechtsgutachten uns jetzt bescheinigt, dass unser Bürgerbegehren eine „eindeutige Meinungsbildung der Unterzeichnenden“ nicht zulasse: 17.000 Bochumer:innen haben innerhalb von viereinhalb Monaten für das Anliegen unterschrieben.

Sie haben sich also sehr wohl eine Meinung gebildet über unsere sieben Ziele für die nächsten neun Jahre, die ich hier verkürzt noch einmal zusammenfasse:

1. der Ausbau der Radwege um acht Straßenkilometer im Hauptroutennetz, das sind alle Radialstraßen, der Innenring und weitere Hauptverkehrsstraßen sowie 12 km im Radergänzungsnetz.
2. sichere und breit angelegt Radwege, der bessere Schutz von Radfahrenden vor dem Autoverkehr und parkenden Autos, die Trennung von Fuß- und Radwegen
3. die Analyse und Beseitigung von Gefahrenstellen, die konsequente Verfolgung von Park- und Halteverboten, die Instandhaltung von Radwegen
4. die Umgestaltung von mindestens 3 Kreuzungen jährlich, sodass Fußgänger: innen und Radfahrer:innen zügig und sicher vorankommen
5. Radschulwegpläne für mind. 4 weiterführende Schulen pro Jahr
6. der Ausbau von insgesamt 7000 Fahrradabstellplätzen, darunter auch Fahrradparkhäuser und Stellplätze an Haltestellen und solche für Lastenräder
7. weitere Maßnahmen zur Förderung der Mobilitätswende: zum Beispiel die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Radwege-Planung; die Evaluation durch wissenschaftliche Begleitforschung und ein jährlicher Bericht über den Umsetzungsstand.

Wir sind im Dezember letzten Jahres von uns aus auf die Politik zugegangen und haben das Gespräch gesucht, wir waren kompromissbereit. Zwei Monate haben wir mit der SPD verhandelt. Dabei wurden zahlreiche Kompromisslösungen gefunden. Wir sind mehr als ein Drittel unserer ursprünglichen Forderungen zu den Ausbaukilometern heruntergegangen. Das ist uns nicht leicht gefallen, denn sichere Radwege auf Hauptrouten sind ein ganz entscheidender Faktor, wenn man den Anteil des Radverkehrs in der Stadt wirklich mehr als verdreifachen will. Wir hätten uns in der Verhandlungsrunde zuletzt beinahe verständigt, dann zog die SPD-Fraktion zurück. Die Anzahl der Ausbaukilometer sei nicht umsetzbar und außerdem gäbe es ein Missverständnis: Denn in ihrer Radwege-Rechnung verdoppelt die SPD die tatsächliche Länge der Straßenkilometer und nennt sie dann „Radwegkilometer“ – nach dem Motto „aus 1 mach 2“, das ist die Logik. Diese Logik findet sich jetzt auch im sogenannten Dringlichkeitsantrag – aus 3,5 mach 7 Kilometer.

Bei dieser Ratssitzung wird also nicht über den RadEntscheid abgestimmt, auch nicht über einen Kompromiss, es wird abgestimmt über einen Antrag von SPD, Grünen, CDU und FDP, für den die RadEntscheid-Initiative gar nicht mehr gefragt wurde. In einer Pressemitteilung loben sich die Fraktionsvorsitzenden vorauseilend dafür selbst: „Mit diesem Beschluss kommt der Radverkehr in Bochum ein großes Stück voran.“ Die Grünen (und ich erwähne sie hier explizit, weil Radverkehr ein grünes Kernthema sein sollte) hatten in einer Pressemitteilung vorab noch das schwache Versprechen abgegeben „vom Radentscheid [zu] retten, was im Rat mehrheitsfähig ist“. Das Netzwerk Stadt für alle kommentiert das in seinem Blog wie folgt: „Mut- und ideenlos werden von vermeintlichen Sachzwängen bestimmte Entscheidungen exekutiert. Die erfolgreiche Abwehr des Radentscheides zeigt einmal mehr, wie in Bochum ohne jeglichen Gestaltungswillen durchregiert wird.“ Auch wenn Sie, liebe Ratsmitglieder, insbesondere von der SPD und den Grünen das überhaupt nicht gerne hören – aber genau so empfinden das gerade Viele, nicht nur wir vom RadEntscheid.

Der Antrag von SPD, Grünen, CDU und FDP hat den Beinahe-Kompromiss, von dem ich gerade sprach, noch deutlich abgeschwächt, aufgeweicht, eingeschränkt, ein Punkt wurde sogar gestrichen.
Auf den Hauptrouten sollen jährlich nur 7 Radwegkilometer „geplant bzw. ausgebaut“ (also nicht zwingend ausgebaut) werden – und nochmal: das sind 3,5 Straßenkilometer, also weniger als die Hälfte der im RadEntscheid geforderten jährlichen Ausbaukilometer. Dass auf den Nebenrouten deutlich mehr Kilometer ausgewiesen werden, zeigt, was SPD und Grüne offenbar ohnehin wollen: Den Radverkehr weitgehend von den Hauptrouten weglenken. Es findet sich zudem der Zusatz, „dass keine erheblichen Einschränkungen für die Leistungsfähigkeit der Straßen, im Hinblick auf andere Verkehrsarten, entstehen“ sollen. Damit besteht aus unserer Sicht immer auch die Möglichkeit, Radwege zu verhindern.

Wie die Weigerung die Radwege auf den Hauptverkehrsstraßen deutlich auszubauen und sie dafür auf die Nebenrouten zu verdrängen in Bochum praktisch aussieht, , zeigt die aktuelle Planung für die sogenannte „Südumfahrung“ der Witten Straße. Nicht nur, dass Radfahrende im Zickzack durch schmale Straßen mit hohem Parkdruck und vielen Kreuzungen geführt werden. Wie der Verwaltungsvorlage zu entnehmen ist, werden dort für 90.000 Euro auch schlicht keine Radwege gebaut, dafür wird die Fahrbahn asphaltiert, es wird aufgepflastert und Baumscheiben werden verkleinert. Das ist keine Radverkehrspolitik, das ist Radverkehrsverhinderungspolitik.

Der Koalition aus SPD und Grünen ist es bisher kaum gelungen über allgemeine Vereinbarungen hinaus wirkliche Maßnahmen für alltagstaugliche und sichere Radinfrastruktur in Bochum umzusetzen. Jetzt gibt es diesen Antrag von SPD, Grünen, CDU und FDP und ja: Ohne massiven Druck von unten durch die RadEntscheid-Kampagne wäre das Thema heute nicht auf dem Tisch. Aber: Eine Mobilitätswende ist das nicht.

Die Fraktionen Die Linke und die Partei/die Stadtgestalter legen heute hier eine Beschlussvorlage vor, die den Beinahe-Kompromiss des RadEntscheids mit der SPD entspricht. So hätte er aussehen können der Kompromiss. Sie haben sich dagegen entschieden. Der RadEntscheid als solches wurde vom Tisch gefegt, wir wurden auf die Zuschauerbank verwiesen. Heute erleben wir keine Niederlage für uns als RadEntscheid-Initiative, aber sehr wohl für die Verkehrswende in Bochum und für die Bürgerbeteiligung in dieser Stadt. Wir und unsere Unterstützer:innen werden das nicht hinnehmen, wir werden weiter Allianzen bilden und laut sein – für eine echte Mobilitätswende. Denn – davon sind wir überzeugt – eine fahrradfreundliche Stadt ist möglich!