Der nachfolgende Text ist von Serpil Temiz-Unvar. der Mutter von Ferhat Unvar, einem der ermordeten Opfer in Hanau. Ihre Rede. wurde im Buch “Texte nach Hanau” als Vorwort veröffentlicht. Güler Bulgurcu vom Bahnhof Langendreer hat ihn vorgetragen:
Ich hatte ein gutes Gefühl, als ich nach Deutschland kam. Schließlich war es ein europäisches Land, das eine gute Zukunft versprach. Meine Kinder würden in Frieden aufwachsen, ohne Angst. Sie würden zur Schule gehen und sie würden einen Beruf haben. Ich stellte mir vor, dass es keine Diskriminierung geben würde, und alle könnten sich sicher fühlen. Aber leider habe ich gelernt, dass das nicht stimmt. Ich gab meinen Kindern immer den Rat: „Ihr müsst mehr arbeiten als die anderen, weil ihr nicht die gleichen Chancen habt, wie die deutschen Kinder”. Als wir Diskriminierung erlebten, hielt ich das für normal, so wie viele andere. Unsere Herkunft und unsere Wurzeln blieben wie ein Stempel, selbst auf unseren hier geborenen Kindern. Wir blieben „die Anderen“.
Seit vielen Jahren wird ignoriert, dass Deutschland ein Problem mit Rassismus hat. „1945 schrie ein Land „Mit uns nie wieder!“ Plötzlich gibt’s die AFD, besorgte Bürger und Pegida.“, schrieb mein Sohn Ferhat 2016 auf Facebook. Als Redefreiheit begreifen diese besorgten Bürger, dass sie hetzen können, so viel sie wollen. Solange Rassismus in der Gesellschaft, in der Politik und auch in den Schulen nicht thematisiert wird, solange wird sich auch nichts ändern. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es in Deutschland keine wirkliche Entnazifizierung gegeben. Alte Nazis haben die Strukturen in diesem Land bis vor kurzer Zeit geprägt, die Politik. die Justiz und auch das Bildungssystem.
In Hanau haben wir am 19.02.2020 bei dem rassistischen Anschlag neun junge Menschen verloren. Für den Täter passten sie nicht hierher. Er fühlte sich offensichtlich getragen von der rassistischen Hetze in diesem Land. Ihm wurde es leicht gemacht, diese hasserfüllte Tat zu begehen. Während auf der ganzen Welt in immer mehr Ländern die Todesstrafe abgeschafft wird, wird gleichzeitig der Kauf von Waffen nicht eingeschränkt und damit das Töten leichter gemacht
Wenn Kinder auf die Welt kommen, sind sie bereit, miteinander zu leben und zu lernen. Keiner entscheidet, mit welcher Nationalität er geboren wird. Hass und Rassismus ist nichts Angeborenes, sondern werden weitergegeben. Ich möchte, dass unsere Kinder die Welt, die wir vergiftet haben, wieder verändern. Ich will, dass sie sehen, dass Hass nur vernichtet. Wenn einer Hass empfinden müsste, dann wäre ich es. Aber Hass ist eine schwere Last.
Niemand kann mir das Leben, das ich vor dem 19. Februar hatte, zurück geben. Niemand kann meinen Sohn wieder lebendig machen. Und niemand kann mir das Gefühl von Zuversicht zurückgeben, das ich hatte, als ich in dieses Land kam. Meine Hoffnung ist die Jugend. Mit ihnen gemeinsam können wir es schaffen. Das sind wir unseren Kindern schuldig, die wir in ihrem Lebensfrühling zu Grabe getragen haben. Sie haben uns diese Aufgabe hinterlassen, die wir nur alle gemeinsam meistern können.
Diese Rede von Serpil Temiz-Unvar wurde im Buch “Texte nach Hanau” als Vorwort veröffentlicht. Der Verlag des Buches heißt “stolze Augen Books” und wurde von BIPOC-Personen gegründet.
https://www.stolzeaugen-books.eu/