Samstag 08.05.21, 18:58 Uhr
Angelina Lachenicht und Julia-Maria Kirstein von der „Kohlengräber-Geschichtswerkstatt“, Rede beim Gedenkrundgang zum Tag der Befreiung 2021

Erinnerungsarbeit gegen das Vergessen und Schweigen


Aus den Bestattungsbüchern der Stadt Bochum:
Grabstätte: Feld 38, D7, Bochumer Hauptfriedhof
Sonja Oliver, 17 Jahre alt, polnische Arbeiterin, Konfession: katholisch,
Geburtsort unbekannt, letzter Wohnort: Lager Heinrichstraße in Bochum-Gerthe, Sterbedatum 3. Juni 1945

Rudolf Pierog, 10 Wochen alt, Sohn der polnischen Arbeiterin Helene Pierog,
Konfession: katholisch, letzter Wohnort: Lager Heinrichstraße in Bochum-Gerthe,
Geburtsdatum: 1. April 1945 um 6°° Uhr im Katholischen Krankenhaus Castrop-Rauxel, Sterbedatum: 17. Juni 1945, bestattet am 19. Juni 1945 auf dem Friedhof in Bochum-Hiltrop.

Leon Lewandowski, 30 Jahre alt, polnischer Arbeiter
letzter Wohnort: Lager Heinrichstraße in Bochum-Gerthe,
Geburtsdatum: 6. Dezember 1915, Sterbedatum unbekannt, tot aufgefunden im Gebüsch am Lager,
Sterbeursache: Zertrümmerung des Schädels,
bestattet am 3. Juli 1945 auf dem Gerther Friedhof

Diese Daten aus den Sterbebüchern, sind alles, was übrig geblieben ist von diesen Menschen, ihrem Leiden und ihrem Schicksal.

Sonja Oliver, Leon Lewandowski, und Rudolf Pierog gehören – nach unseren Recherchen – zu den letzten Opfern aus dem Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenen-Lager Heinrichstraße in Bochum-Gerthe, das von der Zeche Lothringen und den Eisen- und Hüttenwerken (heute Stahlwerke Bochum) betrieben wurde.

Die Opfer arbeiteten und verreckten unter menschenunwürdigen Umständen – wie unzählige andere vor ihnen – in diesem einen von den mehr als 100 Bochumer Lagern, die zunächst der Ausbeutung von Menschen und dann ihrer Vernichtung durch Arbeit dienten.

Nach vielen Recherchen und Zeitzeugen-Interviews beantragten die Schüler*innen des Kohlengräberland-Projekts im Februar 2019 – also 74 Jahre nach Kriegsende – Bodendenkmalschutz für das Lagergelände in Gerthe, auf dem noch heute Mauerreste und Stacheldraht beschlagene Zaunpfähle dieses Unrechtslagers als stumme Zeugen des Grauens zu finden sind.

Im Dezember 2019 wurde das Lagergelände durch unsere Schüler-Initiative dann in die Bodendenkmal-Liste der Statt Bochum aufgenommen.

Unser Antrag, das Lagergelände, das sich im geplanten Neubaugebiet „Gerthe West“ befindet, in „Sonja-Oliver-Platz“ umzubenennen wurde abgelehnt, da man erst den Bebauungsplan abwarten will.

Das Grab des polnischen Zwangsarbeiters Leon Lewandowski befindet sich auf dem Gerther Friedhof auf dem gleichen Gräberfeld, wo auch russische Kriegsgefangene, Gerther Kinder, die mit ihren Eltern bei Bombenangriffen umkamen, aber auch der Gemeinderat Heinrich Fischer begraben sind.
Er war als KPD-Mitglied eines der vielen Opfer des Gerther SA-Schlägertrupps, die kurz nach der Machtübertragung – Anfang1933 – im „Blutkeller von Gerthe“ in der Hegelschule grausam zu Tode gefoltert wurden.

Seit 2017 machten sich Schüler*innen des Kohlengräberland-Projekts immer wieder an die Arbeit und reinigten die verwahrlosten Grabplatten der Opfer des Nazi-Terrors, der Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit auf den Friedhöfen in Gerthe und Hiltrop.

Alljährlich besuchen wir nach dem Gottesdienst am Totensonntag die Grabstätten und legen dort Blumen für die Opfer ab.

Seit unserer Beschwerde an den Oberbürgermeister im Dezember 2019 und einem gemeinsamen Ortstermin auf dem Gerther und Hiltroper Friedhof mit der Stadtverwaltung, den Verantwortlichen beim Regierungspräsident Arnsberg und dem Volksbund Kriegsgräberfürsorge hat sich an dem Zustand der Gedenkstätten bis auf den heutigen Tag – trotz Zeitungsbericht im November 2020 und einer erneuten Beschwerde an den Oberbürgermeister im Februar 2021 nichts getan.

Ein weiteres Opfer des Nazi-Terrors im Gerther Blutkeller ist der jüdische Kaufmann Albert Ortheiler. Ihn haben die Gerther SA-Männer – unter der Führung ihres NSDAP-Ortsgruppenleiters und Gerther Schuldirektors Heinrich Hüper – erschlagen, weil er Uniformen an die Antifaschisten geliefert hatte.
Sein Grab ist auf dem jüdischen Friedhof in Bochum zu finden.

Alberts Ehefrau Rahel Ortheiler war nun gezwungen, von einer kleinen Rente zu leben und ihre Söhne allein zu erziehen. Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde sie enteignet, ihr Kaufhaus auf der Lothringer Straße wurde „zwangsarisiert“. Rahel floh nach Hamburg, ihre beiden Söhne emigrierten nach Afrika. Am 25. Oktober 1941 wurde sie mit weiteren 1.034 jüdischen Menschen aus Hamburg zunächst in das Ghetto Lodz deportiert und von dort aus zur Ermordung in das Vernichtungslager Kulmhof (Chelmno) verbracht.

Auch andere jüdische Kaufleute aus Gerthe wurden Opfer der Shoah. In der Reichspogromnacht wurde auch das jüdische „Kaufhaus Fröhlich“ von Gerther Nazi-Schergen in Brand gesteckt. Die Mitinhaber Lotte und Moritz Reiß zogen nach Gerresheim, wurden dort 1938 ebenfalls zwangsenteignet und nach ihrer Deportation im Jahr 1942 im Ghetto Lodz ermordet. Von dem Verbleib der Familie Rosenthal ist leider nichts überliefert.

Jahrelange Recherchen der Kohlengräberland-Geschichtswerkstatt brachten die Lebens- und Leidensgeschichten dieser jüdischen Mitbürger nun ans Tageslicht.

Es gelang uns schließlich, für diese Menschen – 75 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus – in diesem Herbst die Verlegung von Stolpersteinen auf der Lothringer Straße zu erwirken.

Weitere werden hoffentlich folgen, um die Leidensgeschichten der Opfer des Bochumer Nazi-Terrors wieder in das Bewusstsein der Bürger zu rücken.

Wir Kohlengräber werden uns auch weiterhin gegen das Vergessen und Schweigen engagieren und den NS-Opfern auf unserer Kohlengräberland-Homepage ein würdiges Gedenken bewahren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.