Sonntag 21.03.21, 20:03 Uhr
Dorstener Straße:

Autostadt. Oder doch nicht?


Die Dorstener Straße ist angeblich zu schmal für Radverkehr.

von Klaus Kuliga

An der Dorstener Straße gibt es unmittelbar vor der Einmündung der Hordeler Straße eine seit Jahrzehnten bestehende Engstelle auf dem westlichen Gehweg (von Hannibal in Richtung Stadtmitte). Hier stehen dem Autoverkehr in einer Fahrtrichtung drei Fahrstreifen zur Verfügung (2 Mal geradeaus plus 1 Mal links), den Fußgänger*innen bleibt gerade einmal ein Meter Gehweg und es gibt keinen Radweg. Also etwa zehn Meter für den Autoverkehr, ein Meter für Fußgänger*innen und null Meter für Radfahrende.

Hier ist genug Platz für zwei Fußgänger*innen und einen Radfahrenden – sagt die Autostadt Bochum

Diese Gefahrenstelle für Fußgänger*innen und Radfahrende ist der Bochumer Politik und der Verwaltung seit mehr als 30 Jahren bestens bekannt. SPD, CDU und Grüne haben über Jahrzehnte hinweg diese Gefahrenstelle geflissentlich übersehen, um die ideologische Setzung „Autostadt Bochum“ gegen die Grundrechte von Fußgänger*innen und Radfahrenden zu verteidigen.

Es spricht überhaupt nichts dagegen, Bochum als Autostadt zu bezeichnen, wenn man Bochum ausnahmslos im gleichen Atemzug und zuerst auch als Fußgängerstadt, Fahrradstadt, Straßenbahnstadt und ÖPNV-Stadt bezeichnet.

Genau das ist durch das städtebauliche Bemessungsverfahren seit 2006 in der Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen (RASt 06) vorgeschrieben. Die Verwaltung zitiert den Grundsatz „Straßen von außen nach innen planen“ auch sehr gern – aber erst nachdem sie die Privilegien der Autofahrer*innen unter Berufung auf die angeblich unumgänglich notwendige Leistungsfähigkeit der Straßen bereits festgeschrieben hat. Sie verschweigt dabei bewusst, dass sie mit „Leistungsfähigkeit“ immer nur die Leistungsfähigkeit für den motorisierten Individualverkehr meint. Dabei missachten Politik und Verwaltung einmütig den durch Menschenrechte und Grundgesetz vorgegebenen unbedingten Vorrang der Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen vor der Leistungsfähigkeit, erst recht für nur eine einzelne Verkehrsart. „Speed kills“ sagt auch die Bochumer Polizei, Sicherheit zuerst. Die Leistungsfähigkeit muss für alle Verkehrsteilnehmer*innen gegeben sein und setzt die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer*innen zwingend voraus.

Genau deshalb muss man Straßen von außen nach innen planen. Fußgänger*innen und Radfahrende zuerst. Alle Autofahrer*innen sind am Anfang und am Ende Fußgänger*innen, umgekehrt gilt das nicht: Fußgänger*innen müssen nicht Auto fahren.

Die WAZ und die SPD in Person der aus dem Ausschuss für Infrastruktur und Mobilität als besonders „fahrradfreundlich“ bekannten verkehrspolitischen Sprecherin der SPD im Rat, Martina Schnell, tun nun so, als sei das Problem ganz neu.

Die Problem-Ecke ist seit mindestens 30 Jahren bekannt und benannt

Für den 18. Juni 1991 – also vor fast dreißig Jahren – hatte der SPD-Bezirksvorsteher Mitte alle Bürger*innen eingeladen, um die „Neugestaltung der Dorstener Straße“ vorzustellen. Dazu sollte die komplette Dorstener Straße von der Brückstraße bis Riemker Straße (Hannibal) sehr aufwendig umgebaut werden.

Auf Seite 10 der Broschüre (Karte links) ist genau die Ecke abgebildet, um die es jetzt geht. Das Problem ist also nicht vom Himmel gefallen, sondern wurde von der Bochumer SPD genau so sehenden Auges geschaffen.
Für den Abschnitt von der A40 bis zur Riemker Straße (Hannibal) wurde Radverkehr erst gar nicht eingeplant. Kein Zufall.

Die Planungen zeigten die absolute Priorisierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV). Für Fußgänger*innen und Radfahrende blieben die Abfallflächen übrig. Diese Pläne waren schon bei der ersten öffentlichen Präsentation Makulatur, weil die Diskriminierung von Fußgänger*innen und Radfahrenden zu offensichtlich war. Umgesetzt wurde Jahre später eine wesentlich veränderte Planung, die aber die Sicherheit von Fußgänger*innen und Radfahrenden genau so wenig garantieren kann.

Die Dorstener Straße hat bis heute keine durchgehenden Radwege und die Qualität der vorhanden Geh- und Radwege ist nicht mangelhaft, sondern ungenügend.
Das Problem betrifft die gesamte Dorstener Straße, von der Herner Straße bis zur Stadtgrenze Herne und in beiden Fahrtrichtungen.
Die Gefahrenstelle an der Kreuzung mit Hordeler Straße und Poststraße zeigt das exemplarisch auf.

Die WAZ schreibt: „Der Gehweg an der Dorstener Straße in Hofstede ist sehr eng; Radfahrer und Fußgänger müssen sich ihn teilen.“ Das ist – soll man sagen: selbstverständlich? – falsch. Es handelt sich hier um einen Gehweg mit der Zusatzbeschilderung „Radfahrer frei“. Abgesehen davon, dass ein so schmaler Gehweg niemals für Radfahrende freigegeben werden darf, ist niemand verpflichtet, mit dem Rad auf einem Gehweg zu fahren. Gehwege sind keine Radwege. Deshalb ist Radfahren auf Gehwegen verboten. Wenn es ausnahmsweise erlaubt wird, dann nur mit Schrittgeschwindigkeit: höchstens 5 km/h!

Der durchgehende Parkstreifen könnte ein Radweg sein

Der Normalfall ist hier also, dass Fahrräder auf der Fahrbahn fahren, wie alle anderen Fahrzeuge auch.
Die Stadt Bochum – also die SPD und das Tiefbauamt – müssen dafür sorgen, dass Radfahrende das auch frei und sicher tun können. Die subjektive und die objektive Sicherheit müssen beim Radfahren auf der Fahrbahn gewährleistet sein. Das ist seit Jahr und Tag die Pflicht der Stadt Bochum, von der die SPD und die Verwaltung nichts wissen wollen.

Fakt ist, dass Radfahrende beim Fahren auf der Fahrbahn nicht auf demselben Fahrstreifen überholt werden können. Autofahrer müssen den Fahrstreifen wechseln, um den seit 2020 ausnahmslos vorgeschriebenen Überholabstand von 1,50 m einhalten zu können.

Angesichts der jahrzehntelangen Vorgeschichte dieser Engstelle ist es zynisch, wenn Frau Schnell mit Krokodilstränen in den Augen darauf verweist, „eine kurzfristige Lösung sei nicht möglich“. Richtig wäre zu sagen: Wir verweigern mit voller Absicht seit Jahrzehnten eine Lösung des Problems, weil wir Bochum als Autostadt definieren und die raumgreifenden Ansprüche des Autoverkehrs für uns unbedingten Vorrang vor Fußgänger*innen und Radfahrenden haben.

Aber die SPD traut sich nicht mehr, das offen zu sagen.  Die CDU kann sich derweil ins Fäustchen lachen, denn fahrradfeindlicher als die SPD kann sie gar nicht mehr auftreten. Und die Grünen verstecken sich seit über 15 Jahren hinter des SPD, um den Koalitionsfrieden nicht zu gefährden. Fahrradfreundlich sind die Grünen nur im Wahlkampf („Am 25. Mai wird das Rad gewählt“). Danach sieht man nichts mehr davon. So auch jetzt.

Derweil bringt Frau Schnell das bewährte Apartheidsargument der Autopartei SPD: Fahrräder und Autos dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. „Laut Verwaltung gibt es keinen Platz für einen Radweg, wenn man den Autofahrerinnen und Autofahrern nicht eine Spur wegnimmt. Damit werden Fahrräder und Autos gegeneinander ausgespielt – das soll nicht die Grundlage der nötigen Mobilitätswende sein.“

Gehweg und Radweg sind „großzügig“ bemessen. Das Radwegende ist baulich ausgeführt – ins Nichts

Frau Schnell will damit vertuschen, dass die SPD seit über 60 Jahren permanent die Privilegierung des Autoverkehrs gegenüber Fußgänger*innen und Radfahrenden behauptet, durchsetzt und verbissen verteidigt. „Autostadt Bochum“ eben.

Mit anderen Worten: In der Autostadt Bochum soll die Radwende stattfinden, aber dem Autoverkehr darf dabei kein Zentimeter Fahrbahnfläche weggenommen werden. „Getrennte Entwicklung“ eben. Man kann aber jeden Meter Straßenbreite nur einmal nutzen.

Der schwarze Peter landet mal eben so bei der bösen Verwaltung, die genau das tut, was die SPD will.  „Menschen, die mit dem Auto fahren, sollen“ Frau Schnell zufolge „auf das Rad umsteigen, weil das attraktiv geworden ist.“ So attraktiv wie die SPD die Dorstener Straße für Radfahrende eben gemacht hat!

Wenn Frau Schnell betont, eine „kurzfristige“ Lösung sei nicht möglich, dann sagt sie in gleich drei wesentlichen Punkten nicht die Wahrheit:
1. Das Problem ist nicht erst gestern vom Himmel gefallen. Es war schon seit mehr als dreißig Jahren offensichtlich und die SPD ist seitdem in der Verantwortung.
2. Man muss das Problem Dorstener Straße auf der Dorstener Straße lösen.
3. Es gibt – auch das ist offensichtlich – sehr wohl eine kurzfristige Lösung.

Von „kurzfristig“ kann keine Rede sein.
Die blamablen Pläne, die die SPD 1991 für die Dorstener Straße vorgestellt hat, zeigen bereits genau die Gefahrenstelle, um die es heute geht. Und diese Pläne beweisen, das die SPD diese Gefahrenstelle genau so gewollt hat, um die Leistungsfähigkeit der Dorstener Straße für den Autoverkehr zu maximieren.

Nicht zufällig stehen dem Autoverkehr genau da, wo der Gehweg viel zu schmal ist und kein Radweg vorhanden ist, nicht weniger als drei Fahrstreifen exklusiv zur freien Verfügung. Die Straßenbahn fährt in eigener Trasse und macht so dem Autoverkehr Platz.

Drei Autospuren, ein benutzungspflichtiger Radweg und ein paar Zentimeter für Fußgänger*innen

Das zeigt: Autofahrer*innen sind Straßenräuber*innen und die Verkehrswende ist die Rückerstattung des Diebesguts.
In gewachsenen Städten kann man den Straßenraum nicht nach Belieben vergrößern. Die meisten Häuser waren schon vorher da und geben den Straßenverlauf vor. Es gab nur eine Ausnahme: Als nach dem 2. Weltkrieg die Städte großflächig zerstört waren, konnte man den Verlauf von Straßen ändern. Danach bleib nur der Abriss von Häusern, um Platz zu schaffen. In Bochum wurde auch das gemacht (z.B. Universitätsstraße und Außenring), aber nicht wegen der Fußgänger*innen oder Radfahrenden. Häuser abgerissen und Straßen neu gebaut wurden nur für den Autoverkehr.
Die SPD- und Autostadt Bochum hat über dreißig Jahre hinweg das politisch gesetzte Ziel verfolgt, auch noch den letzten Radfahrende von den Straßen zu vergraulen. Konsequent wurden z.B. die RUB mit ihrem Umfeld, die Universitätsstraße und der Opel-Ring komplett fahrradfrei geplant und gebaut.

Der Verweis auf die Kilometer entfernte Glück-Auf-Bahn als angeblich „kurzfristige“ Lösung ist ein durchsichtiges Ablenkungsmanöver zur Verteidigung der geraubten Privilegien der Autofahrer*innen.

Eine „Umgehung zur Dorstener Straße“ weitab vom eigentlichen Problem ist keine Lösung. Diese Trasse ist zudem keineswegs in wenigen Monaten realisierbar. Frau Schnell weiß das selbstverständlich. Auch langfristig wäre die Glückauf-Trasse nur eine nette Ergänzung zum bestehenden Straßennetz. Schöne Idee, aber ganz und gar keine Lösung für das Problem an der Dorstener Straße.

Bochumer Verkehrspolitik: Fußgänger*innen und Radfahrende müssen ausweichen

Fußgänger*innen und Radfahrende sind biogen unterwegs. Sie müssen die Energie für ihre Fortbewegung selbst aufbringen. Das ist perfekt ökologisch, limitiert aber die Geschwindigkeit und die Reichweite. Deshalb sind Fußgänger*innen und Radfahrende umwegempfindlich. Umgehungsstraßen sind – wie Einbahnstraßen – ein Konzept für den MIV, das MIV-Probleme lösen soll.
Fußgänger*innen und Radfahrende brauchen weder Einbahn- noch Umgehungsstrecken, sie brauchen eine Stadt der kurzen Wege. Auch das ist ein Konzept, das die Verwaltung gerne zitiert, aber nur, wenn es den Autofahrern nicht weh tut.

Die kurzfristige Lösung liegt auf der Hand.
Ein Blick auf den Straßenplan reicht aus, um die wirklich kurzfristig umsetzbare, einfache Lösung zu erkennen:
Die Linksabbiegespur in die Poststraße entfällt, die gewonnene Fläche (3,25 m Breite) wird in Gehweg und Radweg investiert. Fußgänger*innen und Radfahrende brauchen keine Linksabbiegespur. Radfahrende können in Richtung Poststraße indirekt links abbiegen. Was Fußgänger*innen brauchen, ist eine Querungsmöglichkeit an jeder Seite der Kreuzung.

Für Autofahrer*innen gibt es genügend andere Wege, auf denen sie die Poststraße erreichen können. Z.B. auch über die Hordeler Straße. Man kann die Hordeler Straße als Zufahrt der Poststraße nutzen und dazu das Abbiegen in die Dorstener Straße nach links und nach rechts für Kfz unterbinden.

Nicht gelöst und in dem Artikel gar nicht erst angesprochen, ist allerdings das Problem auf der anderen Straßenseite. Auch in der Gegenrichtung existiert zwischen Poststraße und Riemker Straße nicht einmal ansatzweise ein Radweg. Und die Verwaltung hat zu Recht festgestellt, dass hier der Gehweg für Radfahrende nicht freigegeben werden darf, weil die Breite nicht ausreicht. Also müssen alle Radfahrenden spätestens am zehnten Geburtstag mit dem Rad auf der Fahrbahn fahren.
Und Frau Schnell muss kurzfristig erklären, warum das auf dieser Straßenseite subjektiv und objektiv sicher ist, auf der anderen Seite aber nicht.
In einem Punkt hat Frau Schnell aber unbedingt recht: „Die Kreuzung am Hannibal Center ist groß, unübersichtlich und es kam schon öfter zu Unfällen.“ Die Führung des Radverkehrs in dieser relativ neuen Kreuzung ist in der Tat eine verkehrsgefährdende Katastrophe. Das will Frau Schnell aber gar nicht ändern. Sie tut lieber so, als wäre der Ausbau der Bahntrasse Salzbahn die Lösung des Problems. Der Ausbau der Salzbahn als Bahntrassenweg ist eine schöne Idee, hat aber mit der Kreuzung am Hannibal Center nichts zu tun. Die Behauptung, die Salzstrecke als Radweg könne „die Kreuzung entlasten“ ist entlarvend: Die Mobilitätswende besteht für Frau Schnell darin, dass die lästigen Radfahrenden von den Straßen verschwinden und die Autofahrer*innen endlich freie Bahn haben – bis zum nächsten Autostau.  Genau das ist der fußgänger- und fahrradfeindliche (Alp-)Traum von der Autostadt Bochum, den die SPD seit über 60 Jahren träumt – bis heute ungebrochen.

Die Art und Weise, wie die Autostadt Bochum sich gegen aufbegehrende Radfahrende und Fußgänger*innen zur Wehr setzt, entspricht übrigens bis ins Detail den Mechanismen und Strategien des strukturellen Rassismus: Es geht darum, die Privilegien der Macht gegen eine willkürlich ausgegrenzte Gruppe von Anderen zu verteidigen.
Frau Schnell repräsentiert – als Frau! – die autofixierten alten Männer der SPD, die sich ein Leben ohne Auto gar nicht erst vorstellen wollen. Es wäre der Weltuntergang.

Literaturangaben
https://www.waz.de/staedte/bochum/radfahren-und-fussgaenger-in-bochum-hofstede-leben-gefaehrlich-id231592443.html
https://www.waz.de/staedte/bochum/dorstener-strasse-spd-bochum-fordert-umgehung-fuer-radfahrer-id231648297.html


Klaus Kuliga hat zu dem hier beschriebenem Problem eine Bürgeranregung an den Rat der Stadt formuliert. Der § 24 der Gemeindeordnung NRW sieht dieses Instrument der Bürgerbeteiligung vor.