Dienstag 10.11.20, 20:05 Uhr

Rede von Felix Lipski auf der Gedenkveranstaltung in Wattenscheid zum 82. Jahrestag der Pogrome am 9. November 1938


Sehr geehrte Wattenscheiderinnen und Wattenscheider,
sehr geehrte Bochumerinnen und Bochumer,
sehr geehrter Herr stellvertretender Bezirksbürgermeister
Oliver Buschmann,
sehr geehrter Herr Landtagsabgeordneter Serdar Yüksel,
sehr geehrte Freunde.
Heute vor 82 Jahren wurden im nationalsozialistischen Deutschland Hunderte Synagogen verbrannt, mehr als hundert Juden wurden dabei ermordet. 30.000 Juden wurden in KZs geschickt, jüdische Schulen und Geschäfte vernichtet.
Der 9. November 1938 war der Höhepunkt der fünfjährigen Verfolgung von Juden durch das Nazi-Regime. Damals geschah die rasche Ausgrenzung der Juden aus allen Gesellschafts- und Lebensbereichen im Deutschen Reich, es gab Boykottaktion gegen jüdische Geschäfte, Warenhäuser, Anwaltskanzleien und Arztpraxen, Berufsverbote. Ca. 200.000 Juden wurden zum Auswandern gezwungen.
Dieser Tag war ein Vorbote vom Holocaust, von totaler Verfolgung und Vernichtung von 6 Millionen Juden in Europa mit Beginn des 2. Weltkriegs. Unter den ermordeten Juden waren fast zwei Millionen Kinder und Jugendliche. Sie haben am meisten während des Holocausts gelitten. Sie konnten sich nicht selbst verteidigen, ernähren oder verstecken.
Ich bin jetzt 82 Jahre alt. Am 22. Juni 1941 hat das deutsche Naziregime die Sowjetunion angegriffen. Minsk, die Hauptstadt von Weißrussland, wurde schon am 6. Kriegstag besetzt. Wenige Tage später wurde ein Stadtteil mit Stacheldraht abgeriegelt und ein Ghetto eingerichtet. Dort wurden ca. 100.000 Juden festgehalten. Da landete auch ich, ein dreijähriges Kind mit meiner Mutter und den Familien von fünf meiner Tanten. Das Minsker Ghetto war auch die Endstation von Juden aus Deutschland, Österreich, Polen, Tschechien und der Slowakei. Sie wurden dort später ermordet. Unter ihnen waren auch mehr als 50 Jüdinnen und Juden aus Wattenscheid, Bochum und Herne.
Nach einem Jahr waren von den 100.000 nur noch 9.000 am Leben geblieben. Alle anderen wurden erschossen, kamen in Gaswagen – eine Art von Mobilgaskammern – ums Leben oder starben an Hunger, Kälte und Krankheiten. Besonders quälend war Hunger. Wir hatten kaum etwas zu essen bekommen. Erwachsene, die zur Zwangsarbeit geschickt wurden, haben 125 Gramm Brot und 1 Liter Suppe pro Tag bekommen. Eine Suppe aus Brennnessel war für uns ein Traum.
Alle paar Wochen wurden Kinder aus dem Kinderheim zusammen mit Erziehern und Ärzten zum Friedhof gebracht und an Ort und Stelle erschossen.
In meiner Erinnerung blieb Angst, sogar noch jetzt nach so vielen Jahren verfolgt es mich. Wir Kinder haben auf den Straßen Leichen von Erschossenen gesehen und Galgen mit hingerichteten Widerstandskämpfern.
25 Mitglieder aus meiner Familie sind im Holocaust ums Leben gekommen. Nach einem Pogrom sind meine Haare grau geworden. Ich war damals vier Jahre alt.
Dank einer Widerstandsgruppe konnten wir mit meiner Mutter vom Ghetto im Sommer 1943 zu Partisanen fliehen.
Das, was ich als Kind erlebt habe, begleitet mich mein ganzes Leben. Ich habe über 40 Jahre als Chirurg gearbeitet, ich wollte Patienten bei Krankheiten und Traumata helfen.
Ich habe Erinnerungen von Holocaust-Überlebenden in Weißrussland gesammelt, viel recherchiert über das Ghetto, den jüdischen Widerstand innerhalb des Ghettos und den Kampf der Partisanen und dies vielen Schülern und Studenten erzählt. Ich habe dies als meine Lebensaufgabe angesehen. Ich habe eine Assoziation – also eine Organisation – für ehemalige Ghetto- und KZ-Überlebende in Weißrussland gegründet. Wir haben eine sehr große Arbeit geleistet, damit der Holocaust nicht vergessen wird.
Genau vor 22 Jahren bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. In der jüdischen Gemeinde Bochum haben wir den Club „Stern“ für ehemalige Ghetto- und KZ-Überlebenden und Kriegsveteranen organisiert.
In Bochum habe ich viele Menschen kennengelernt, die sich mit dem Thema Holocaust in Deutschland und Bochum konfrontiert haben. Ich nenne nur einige Namen: Dr. Manfred Keller, Pfarrer Thomas Wesel und seine Frau Ayla, Pfarrer Arno Lohmann, Uli Borchers und viele andere.
Besonders nah war für mich Hannes Bienert. Er hat einen kompromisslosen Kampf gegen Neonazis und Antisemiten geführt. Er hat Geld für ein Denkmal als Erinnerung an ermordeten Wattenscheider Jüdinnen und Juden gesammelt. Dank ihm treffen wir uns jedes Jahr an diesem Denkmal und lesen die Namen der Ermordeten und sprechen ein Gedenkgebet, das sogenannte Kaddish.
Der Hartnäckigkeit von Hannes Bienert ist es zu verdanken, dass der Platz vor dem Wattenscheider Rathaus den Namen von Betti Hartmann, einer 15-jährigen in Auschwitz von den Nazis ermordeter Schülerin, trägt. Es ist in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmalig, dass ein Platz im Stadtzentrum den Namen von einer einfachen Schülerin als Kriegs- oder Holocaustopfer trägt.
Ich bin besonders froh, dass heute an der Gedenkveranstaltung für die Opfer der Pogromnacht auch der stellvertretende Bezirksbürgermeister
Oliver Buschmann, Mitglieder der Bezirksvertretung, des Rates und des Landtages teilnehmen.
Unsere Zusammenarbeit gegen Antisemitismus, Rechtsradikalismus, radikalen Islamismus und Fremdenfeindlichkeit ist unglaublich wichtig.
Die Ereignisse in Halle, Berlin, Wien und Nizza zeigen uns, dass wir wachsam bleiben sollten. Sonst kann sich alles wiederholen.
Es ist wichtig, dass in den Schulen und Universitäten mehr über die Nazi-Zeit und den Holocaust gesprochen wird. Wir müssen aktiv allen Versuchen von Neonazis, der AfD und anderen extremen rechten Bewegungen, die Gesellschaft zu spalten, entgegenwirken.
Ich als Holocaust-Überlebender flehe Sie an, Holocaustopfer nicht zu vergessen.
Die Ehre aller Menschen ist unantastbar und gehört geschützt unabhängig von Herkunft, Religion und Zugehörigkeiten. Wir müssen die Würde schützen und Krieg mit aller Macht verhindern.
Nie wieder Faschismus!
Nie wieder Krieg!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.