Montag 09.11.20, 21:05 Uhr

Rede des stellv. Bezirksbürgermeisters Oliver Buschmann auf der Gedenkveranstaltung in Wattenscheid zum 82. Jahrestag der Pogrome am 9. November 1938


Ich begrüße Sie alle herzlich im Namen der Stadt Bochum und des Bezirks Wattenscheid zu unserer Gedenkveranstaltung an die Opfer der Shoa. Ich begrüße besonders Felix Lipski, Präsident des Klubs Stern der jüdischen Gemeinde Bochum und Überlebender der Shoa.
Heute vor 82 Jahren brannten überall in Deutschland die Synagogen, wurden jüdische Mitbürger*innen drangsaliert, eingeschüchtert, beleidigt, tätlich angegriffen oder grundlos verhaftet. Ihre Wohnungen und Geschäfte wurden zerstört, ihr Hab und Gut geplündert oder auf die Straße geworfen. Deutschland war endgültig zu einem gefährlichen Ort für Juden und Andersdenkende geworden. Auch Wattenscheid bildete damals keine Ausnahme.
82 Jahre – das entspricht in etwa dem Lebensalter eines Menschen und die Zahl der noch lebenden Zeitzeugen wird immer kleiner. Bald wird niemand von den Menschen mehr unter uns sein, die den 9.11.1938 und die Zeit danach noch selbst erlebt haben und uns davon berichten können.
Es wird bald niemanden mehr geben, der aus eigenem Erleben Zeugnis ablegen kann, der sagen kann: Ich war dabei, ich habe das Unrecht mit eigenen Augen gesehen. Es wird bald niemanden mehr geben, der mit seinen eigenen Erinnerungen gegen den verbreiteten Hang zum Vergessen ankämpft.
Deswegen werden die Orte des Erinnerns und Mahnens immer wichtiger. In Wattenscheid sind das die Stelen der Erinnerung in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Standorts der Wattenscheider Synagoge, die an die Opfer der Shoa erinnern und den Opfern in Wattenscheid ihre Namen zurückgeben. Die Stelen sind der Verdienst von Hannes Bienert, der sich lange für die Errichtung der Stelen eingesetzt und Spenden gesammelt hat sowie vieler Wattenscheider Bürger, die mit ihren Spenden zur Errichtung dieses Denkmals beigetragen haben.

Weitere Orte der Erinnerung sind die Stolpersteine, die, verlegt an den letzten Wohnorten jüdischer Bürger*innen, auf deren Schicksal aufmerksam machen.
Es gibt im Deutschland von heute aber auch Kräfte, die das Gedenken für eine überflüssige Bürde halten, die es als nationale Selbstkasteiung bezeichnen oder es als Fliegenschiss der Geschichte ins Lächerliche zu ziehen versuchen. Die Intention dahinter ist indes nur allzu deutlich: Wer seine Geschichte vergisst, kann aus ihr nicht mehr lernen und kann wieder empfänglich werden für alte Lügen.
Das Gedenken aber bietet uns allen die Chance, aus der Vergangenheit zu lernen, wachsam zu bleiben und den Ideologien entgegen zu treten, die unser Land schon einmal ins Verderben geführt haben.
Das Gedenken bietet uns auch die Chance, uns miteinander zu versöhnen: Dadurch wird nichts ungeschehen und nichts getilgt, aber es wird im Jetzt und Hier ein vertrauensvolles Zusammenleben möglich.
Und deshalb kann Gedenken uns am Ende sogar einen Weg in die Zukunft weisen. Wer sich ernsthaft darüber beklagt, dass dieses Land ständig zurückblickt auf die eigene Schande, der hat nichts verstanden. Denn erst aus der Zeit des Nationalsozialismus und aus dem furchtbaren Weltkrieg ist jenes freiheitliche, demokratische Europa entstanden, in dem wir seit über sieben Jahrzehnten friedlich miteinander leben.
Dieses Europa und dieses Deutschland gilt es zu schützen und zu verteidigen. Der Antisemitismus zeigt nach wie vor seine hässliche Fratze, die Würde des Menschen scheint je nach dessen Hautfarbe, Religion, politischer Überzeugung oder sexueller Orientierung von Fall zu Fall doch antastbar. Hinzu kommt im politischen Raum der gezielte Tabubruch, ein perfides Anbandeln mit nationalsozialistischer Sprache, mit diskriminierenden Parolen und faschistischer Demagogie.
Damals in der Weimarer Republik und in den ersten Jahren nach 1933 hat die Zivilgesellschaft zu lange geschwiegen – und als die Synagogen brannten, war es zu spät.
Deshalb versammeln wir uns auch Jahrzehnte danach Jahr für Jahr an diesem Ort, um an die Pogromnacht zu erinnern. Denn jeder Moment des Gedenkens ist auch ein Moment, in dem wir laut und deutlich sagen: Nie wieder Faschismus – Nie wieder Krieg.
Was am 9. November 1938 auf unseren Straßen geschehen ist, wird niemals eine historische Fußnote sein: Es ist und bleibt eine Mahnung und eine Aufgabe für die Zukunft.