Montag 20.07.20, 08:01 Uhr
16. Juli 1995:

Zum faschistischen Mord an Dagmar Kohlmann 1


Azzoncao, ein Polit-Cafè erinnert: »Vor 25 Jahren, am 16. Juli 1995, wurde die 25-jährige Dagmar Kohlmann in Altena von dem Nazi Thomas Lemke und seiner Lebensgefährtin Bianka Weidemann ermordet. Ihren Leichnam vergrub Lemke in einem Waldstück. Dagmar Kohlmann war per Zufall von Lemke ausgesucht worden. Seine Freundin zwang er zur Tat. So wollte er sie an sich binden und den Verrat seiner neo-nazistischen Aktivitäten vorbeugen. Im Jahr darauf vergewaltigte und ermordete Lemke am 3. Februar Patricia Wright und erschoss seinen ehemaligen Kameraden Martin Kemming am 15. März 1996. Völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar wird Dagmar Kohlmann in den heutigen offiziellen Statistiken nicht als Opfer rechter Gewalt geführt.

Eines unserer Mitglieder verfolgte 1997 den Strafprozess gegen Thomas Lemke an der Schwurgerichtskammer des Essener Landgerichts und schrieb für die Antifaschistischen NRW-Zeitung einen Artikel. Viel hat sich in dem letzten Vierteljahrhundert nicht an den bundesdeutschen Realitäten und den behördlichen Reaktionen geändert. Um die Ereignisse nachvollziehbar zu machen, sei der Artikel hier noch mal präsentiert:

Der Lemke Prozess

Für eine kurze Zeit füllten die Taten und der Prozess des Gladbecker Nazis Thomas Lemke die Schlagzeilen der Presse. Sensationslüsternd wurde über seine drei Morde berichtet. Wie üblich waren die Berichte oberflächlich und über die hinter den grausamen Morden stehenden politischen Auffassungen und Strukturen wurde kaum berichtet.

Das Essener Landgericht verfuhr nicht anders in seiner Prozessführung. Die II. Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Esders tat alles, um die Taten zu psychologisieren und zu individualisieren und ihnen die politische und gesellschaftliche Dimension zu nehmen. Dabei folgte sie den Motiven, die der Anklagevertreter, Staatsanwalt Gutjahr, vorgab. Dieser war schon in den Vorermittlungen zu Lemke involviert gewesen. In diesen schlossen die Strafverfolgungsbehörden schon frühzeitig einen politischen Hintergrund der Taten aus.

Lemke, der zu den Vergewaltigungen angab: „Die Gelegenheit war günstig“ ordneten sie sexuelle Motive zu. Diese Auffassung verfolgte Gutjahr weiter im Prozess. Fragen zu Lemkes politischem Hintergrund (WJ, DA, FAP, NSDAP/AO, ‚Deutsche Liste‘, DVU, u.a.), seinen Waffenschiebereien, seinen internationalen Verbindungen und seinen heidnisch – religiösen Vorstellungen unterblieben.

Ebenso waren Nachfragen an die diversen faschistischen Zeuginnen selten. Die Befragung von Lemkes Mentor, dem 74jährigen Gelsenkirchener Nicolai Luisetti, war beispielhaft: Der ehemalige französische Freiwillige der Waffen-SS, der in den Siebzigern in Italien lebte, in den Achtzigern in der ‚Wiking Jugend‘, der NPD und für die Kühnen-Gruppe aktiv war und Lemkes Mentor wurde, wurde frei nach der Art des heiteren Beruferatens befragt, Hintergründe schienen für Richter Esders uninteressant zu sein. Was das mangelnde Aufklärungsinteresse des Staatsanwaltes Gutjahr angeht, ist dies nicht weiter verwunderlich. Er war der leitende Staatsanwalt, der die faschistischen Spuren in dem Hattinger Brandanschlag nicht verfolgte, sondern stattdessen die türkische Mutter als Täterin anklagte. Mit diesem Konstrukt kam er damals nicht durch, mit der Entpolitisierung des LemkeProzesses dafür um so besser.

Die Gutachterinnen, die Lemke und seine Mittäter psychologisch zu beurteilen hatten, taten das ihrige, dass der Prozess in diesem Sinne verlief. Da korrodierte Lemkes NS-Überzeugung zur Suche nach den Wurzeln eines Vaterlosen. Prägend sollen da die Kindheitsjahre gewesen sein. Was der heute 28jährige Lemke in den 14 Jahren NS-Szene dann an Prägung, an Gedankengut, menschenverachtendem Weltbild, Frauenfeindlichkeit, Aggressionspotential und Gewaltbereitschaft erfuhr, welche „Wurzeln“ er hier fand, wie und warum dort gerade jemand darauf kommt, „daß Linke kein Lebensrecht haben“, interessierte die Gutachterinnen nicht. Ganz zu Schweigen davon, dass seine brutalen Vergewaltigungen der Ausdruck der Sexualisierung der dort favorisierten Gewaltverhältnisse sind.

Der mitangeklagte Oberhausener Nazi Marcel Müthing soll sich aus Oppositionshaltung zu den Eltern der NS-Szene zugewandt haben. 10 Jahre pubertierende Oppositionshaltung? Billiger kann man einen Freifahrtschein bei einem Mordprozess nicht bekommen. Was Müthing in seinen 10 Jahren NS-Szene trieb, interessierte die Psychologen ebenso wenig, wie der Umstand, wie es unter Menschen aussieht, bei denen man sich – wie Lemke – brüsten kann „eine Linke durchgezogen und abgestochen“ zu haben. Stattdessen nahmen die Herren und Damen Gutachter auf Treu und Glauben Müthing seine angebliche Gewaltfreiheit ab.

Eigentlich sollte man davon ausgehen, dass den Nazis die Entpolitisierung dieses Prozesses entgegengekommen wäre, dass sie sich bei einem Prozess bedeckt gehalten hätten, in dem ihre Kameraden angeklagt waren, eine Antifaschistin unter dem Vorwand, selber Antifaschisten zu sein, aufsuchten und Lemke sie unter Müthings Beihilfe vergewaltigte und schließlich erwürgte, erschlug und mit über neunzig Messerstichen liegen ließ.

In dem der Hauptangeklagte seine von ihm betrogene, gedemütigte und misshandelte Lebensgefährtin dadurch erpressbar machen wollte, dass er sie in einen Mord verwickelte. Einen Mord, bei dem er das Opfer per Zufallsprinzip aus dem Adressbuch heraussuchte. Eine vertrauensvolle Bekannte, die sie in ihre Wohnung mitnahmen, wo Lemke sie fesselte und vergewaltigte. Und die er mit der in Todesangst versetzten Bianca Weidemann in einem Waldstück erdrosselte. Anschließend schlug er mit einem Klappspaten auf ihren Hals ein und verscharrte sie. Einem Prozess, zu dem es deswegen gekommen war, weil der Hauptangeklagte seinen dritten Mord, einen Fememord, in aller Öffentlichkeit beging. Einem ehemaligen Kameraden, den er früher schon bei einer Streitigkeit eine Gewehrmündung in den Rachen hielt und von dem er deswegen angezeigt wurde, zerfetzte er mit einer Pumpgun. Mit zwei Schüssen von jeweils 9 Kugeln erschoss er ihn.

Aber die Nazis übten sich offen in Solidarität. Wohl auch um eventuelle Aussagen der Gesinnungsgenossen vorzubeugen. In „Der Weiße Wolf“ (Nr.3) wurde zur Solidarität für Lemke aufgerufen. Und den Prozess beobachteten neben HNG-Funktionär Erhard Kemper, die JN – Kader Melanie Dittmer und Andreas Posselt, sowie „Ruhrfrontler“ und Glatzen um den ehemaligen FAP – Führer Ralf Panek aus Duisburg. Sie amüsierten sich sichtlich bei den Verlesungen der Protokollaussagen zu den Vergewaltigungen und witzelten zu den Aussagen der Gerichtsmediziner, als diese die Verletzungen der toten Frauen beschrieben. Als Lemke dann bei der Urteilsverkündung in das Mikro rief: „Somit haben die Juden ihren Willen bekommen“, applaudierten die anwesenden Nazis. Ernst Tag und Markus Wolter von der „Aktion sauberes Deutschland“ sowie Ralf Panek durften daraufhin drei Tage in Ordnungshaft verbringen. Andreas Posselt, Melanie Dittmer und der Dortmunder Sebastian Dost durften, mit einer väterlicher Ermahnung versehen, wieder Platz nehmen.

Die Aktion der braunen Claqueure warf nicht nur ein Schlaglicht auf den charakterlichen Zustand der Rechten, sondern auch auf den ausgeblendeten Hintergrund des Verfahrens. Ebenso widerlegte es die vom Gericht ausgegebene These des „Einzeltäters“, der von niemanden ernst genommen und über keinerlei politische Einbindung in der Szene verfüge.

Lemke verwies in diesem entpolitisierten Prozess selber noch auf die obskure Rolle, die der Verfassungsschutz einnahm. In seinem Schlusswort sprach er seine Observierung durch den Verfassungsschutz an, die anscheinend über Monate ging. Er mutmaßte, dass VS ihn nicht festnehmen ließ, da die Behörde ein Psychogramm von ihm erstellt und darauf gewartet hätte, dass er etwas macht, was in der Öffentlichkeit den Rechten schaden könnte. Eine gewagte These. Diese entspricht auch eher dem Werwolf-Konzept der Nazis selber. Dies bezieht Terrorakte der Kameraden in Folge „psychologischer Entgleisungen“ mit ein, kommt dies doch dem von ihnen angestrebten Bedrohungsszenario entgegen. Das der VS Lemkes Aufenthaltsort kannte, ist sehr wahrscheinlich. Schon im März 1996 verwies das FBI auf Altona als Aufenthaltsort von Lemke. Der VS versuchte sich später herauszureden, die Adresse hätte nicht gestimmt. Lemkes Lebensgefährtin, bei der er wohnte, war zu dieser Zeit innerhalb Altonas in die Wohnung der Schwester umgezogen. Das dies zu schwer für den VS zu ermitteln war, ist wenig glaubwürdig. Es ist also fraglich, welche Rolle wieder einmal der VS im Bezug auf die NS-Szene spielte.

Was an diesem Prozess weiterhin auffallend war, war die Kälte der verwendeten Sprache aller Beteiligten. Es wurde von den „Straftaten zum Nachteil von…“etc. gesprochen. Die wenigsten der verbeamteten Leute sprachen von Opfern, von „Vergehen an..“ Das Subsumieren von Opfern zu reinen Aktenzeichen in einem technokratischen Ablauf war gruselig. Ebenso patriarchal wie die Sprache, war die Auffassung von Gutjahr, dass die Morde an den Frauen nicht grausam gewesen sein, da ihnen über die Tötung hinaus kein weiteres Leid und Schmerz zugefügt worden sei.

Die Vergewaltigungen fallen da als Grausamkeiten dem Mann Gutjahr nicht auf.
Besonders auffallend war die Männerlogik Esders und Gutjahrs bei der unterschiedlichen Bewertung der Tatbeteiligung der beiden Mitangeklagten. Diese fiel für Bianca Weidemann, die im Prozess immer wieder in Tränen ausbrach, weit schlechter aus, als für den unterkühlten Marcel Müthing. Weidemann stand zu Lemke, ihrer großen Liebe, in einem psychologischen Abhängigkeitsverhältnis. Sie schaffte es nicht, sich von diesem trotz Schläge und Demütigungen zu trennen und unternahm nach dem Mord, zu dem sie von ihm gezwungen worden war, mehrere Selbstmordversuche.

Kurz vor der Tat wurde sie von Lemke eingesperrt und bei der Tat selber musste sie um ihr Leben fürchten. Trotzdem warfen ihr die Herren Juristen wesentlich härter als Müthing vor, sich der Tat nicht widersetzt zu haben. Müthing, der ein ganz anderes Verhältnis zu Lemke hatte, der besser hätte agieren können und nicht bedroht worden war, wurde sein „ängstliches Mitläufertum“ positiv ausgelegt. Was der Frau zum Nachteil gereichte, sprach für den Mann. Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lang nicht dasselbe.

Am 18.3.“97 ergingen die Urteile. Gegen Lemke wurde eine lebenslange Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung ausgesprochen. Er wurde des dreifachen Mordes, der Vergewaltigung und der versuchten Vergewaltigung für schuldig befunden. Sein Mitangeklagter Marcel Müthing wurde wegen Beihilfe zur Vergewaltigung, sowie zu dem Mord an Patricia Wright zu 5 Jahren verurteilt. Bianca Weidemann wurde wegen Mordes an Dagmar Kohlmann zu 6 Jahren Haft verurteilt.«

(antifaschistische nrw zeitung 14/15 – sommer ’97)
(Quelle: Proyecto Memoria – Die Morde an Martin Kemming, Dagmar Kohlmann und Patricia Wright https://linksunten.mirrors.autistici.org/node/35656/index.html )


Ein Gedanke zu “Zum faschistischen Mord an Dagmar Kohlmann

  • Rainer Möller

    Bisschen wirr und loffenbar für Insider verfasst, die die Tatsachen schon kennen. Wenn ich richtig rate, war Right die Antifaschistin und Kohlmann wurde aus dem Telefonbuch ausgesucht. Aber warum konzentriert sich der Artikel dann auf Kohlmann, wo eine politische Motivation nur in homöopathischer Dosis erkennbar ist?
    Man könnte ja einigermaßen plausibel argumentieren, dass der Aufenthalt in der rechten Szene dazu inspiriert, Antifaschisten umzubringen. Aber Leute aus dem Telefonbuch?

Kommentare sind geschlossen.