Samstag 20.07.19, 19:30 Uhr

Bericht vom CSD 6


Auf dem Husemannplatz geht gerade das CSD-Fest zu Ende. In ca. einer halben Stunde startet die Tanz-Demo am Appolonia-Pfaus-Park. Fünf Minuten vor 17 Uhr, dem Startpunkt des Festes, begann der Regen, wurde zum Wolkenbruch, aber die Teilnehmenden hielten aus. Unter den Schirmen des Cafés an der Kortumstraße herrschte Gastfreundschaft, auch ohne zu konsumieren durften die BesucherInnen sogar an den Tischen Platz nehmen. Auf der anderen Seite an der Viktoriastraße versuchte der Geschäftsführer des Cafés, alle Leute zu vertreiben, die unter seinen Schirmen Schutz suchten. Ein älterer Mann invenierte und wies daraufhin, dass der Husemann-Platz ein öffentlicher Ort sei, Gastronomen nur ein Sondernutzungsrecht haben und er doch die Polizei rufen solle, wenn er Menschen vertreiben wolle. Er gab auf.
Der Platz war geprägt von den Infotischen von ganz vielen Initiativen, die auch diverse Leckereien anboten, von einer ausgelassenen Stimmung und von sehr jungen Teilnehmenden. Fridays for Future bot Gemüsesuppe – mit und ohne Kartoffeln – gegen Spende an und einige ältere Anwesende waren überrascht, wie stark sich eine selbstbewusste Jugendwegung artikuliert. Ein Kommentar: Wer das vor zwei Jahren prognostiziert hätte, wäre gefragt worden, wo von er sonst noch träumt. Der Regen hörte auf, ganz viele waren geblieben, inzwischen mehr als 500 gekommen, die Sonne schaffte es nicht einen Regenbogen zu erzeugen, aber viele Anwesende hatte das Gefühl, in einem bunten Bochum zu leben.


6 Gedanken zu “Bericht vom CSD

  • Norbert Hermann

    Das Gefühl täuscht.
    .
    Wenn knapp 2 Promille der Bochumer Bevölkerung feiern und tanzen so freut mich das und ich mache gerne mit. Ein zigfaches davon allein der Bochumer Jugendlichen bleibt allerdings ausgegrenzt. Für mehr als die Hälfte der Bevölkerung wird das Leben täglich grauer. 62 Prozent der erwerbsfähigen Hartz IV-Abhängigen entstammen dem sog. „Migrationshintergrund“. Von Unterstützungsgruppen ebenso wie von den Gewerkschaften vergessen. Es gibt sehr viel individuelles Elend, die zuständigen Dienste sind krass unterbesetzt.
    .
    Linkspartei und Gewerkschaften machen in „grosser Politik“ – für die Menschen in Bochum kommt nix um. So hat verdi gar den Personalrat beim Jobcenter verloren. Die Gewerkschaften haben in den letzten zwanzig Jahre anteilmässig mehr Mitglieder verloren als die christlichen Götzenanbeter – mit gutem Grund.
    .
    Für eine Verlangsamung der Klimafolgen soll vor allem die untere Hälfte der Bevölkerung bluten. Sie sind am wenigsten Schuld daran.
    .
    Das Leben in Bochum ist „alles andere als bunt“.
    .
    Norbert Hermann, Bochum-prekär

  • Amina

    @ Norbert

    Du bemängelst die Formulierung, dass „viele Anwesende das Gefühl hatten, in einem bunten Bochum zu leben“. Ist es wirklich schlimm, sich für einen Moment zu freuen, dass es viele andere gibt, die auch gut drauf sind, dass man nicht allein ist? Ich war völlig überrascht, dass bo-alternativ plötzlich einen so emotional motivierenden Beitrag veröffentlicht. Mein Vater hatte schon immer bo-alternativ als erste Seite im Interetbrowser. Ich habe das übernommen. Für mich ist unvorstellbar, dass bo-alternativ unkritisch ein buntes Bochum proklamiert. Ich fand es absolut grandios, dafür zu werben, dass es sich noch lohnt, zur Tanzdemo zu gehen und sich dort ein gutes Gefühl zu gönnen. Ich habe mich darauf eingelassen und habe Morgen etwas mehr Kraft, wenn ich wieder mit dem Elend konfrontiert bin, das Du beschreibst.

  • Roland

    Norbert hat Recht.
    In den heutigen Protestbewegungen werden Widersprüche getrennt voneinander gedacht, bzw. die anderen Widersprüche ausgeblendet und als solche nicht behandelt. Oft, weil man sein eigenes Interesse über das der Anderen stellt. Hier z.B. wird das eigene hedonistische Interesse am Ausleben von Sexualität gehypt mit „Riot“-Rhetorik und die postulierter Solidarität zu verfolgten Gleichgesinnten im Ausland dient der Inszenierung einer eigenen Opferrolle. Bunt in dieser identitären Selbstinszenierung und hedonistischen Eventkultur sind lediglich die Farben der Fahnen.
    Norbert wird hier „Spaßfreiheit“ attestiert. Das glaube ich für Norberts Alltag gerne. Spaß wird er und seine Klient*innen in ihrem Dasein kaum empfinden. Und sie werden mit der Demo am Samstag auch kaum etwas anfangen können. Wie mit vielen Demos von Klimaschützer*innen, Antifaschist*innen, Antirassist*innen, usw. auch. Denn die soziale Frage wird nicht gestellt. Und wenn, dann glauben sie den propagierten Slogans, wie auch denen der Parteien, Gewerkschaften und Sozialverbänden nicht mehr. Und das zu Recht.
    Das Norbert das Lachen im Hals stecken bleibt verstehe ich gut. Er gehört halt zu den „Negativen“, wie sie Tucholsky schon in den 20er Jahren bezeichnete. Zu den kritischen Geistern, die sich nicht blenden lassen wollen. Er hat eine Gesellschaftsanalyse und nicht nur temporäre Befindlichkeiten.

    p.s.: Glaubt ihr allen Ernstes der Wahlerfolg der Grünen läge an deren emanzipativen Charakter? Er liegt daran, dass sie den Erhalt des neoliberalen „Livestile of the West“ (inklusive Kapitalismus, Militarismus und Ausbeutung) mit Erhalt der Ressource „Natur“ versprechen.
    So auch der CSD. Das was zwischen den Beinen und in der Libido der Menschen passiert ist halt wichtiger als die Armut der Anderen. Wer von diesen Leuten wird für Lohnerhöhung von Altenpfleger*innen oder das Wahlrecht von Ausländer*innen demonstrieren? Ganz spaßfrei? Ohne bunte Fähnchen und Tamtam? Ernsthaft und mit Bullen vor sich? Von wegen Riot und so? Wohl kaum jemand.

  • Amina

    Genau so stelle ich mir einen erfolglosen frustrierten Altlinken vor, der immer mit seiner Besserwisserei andere Leute entmutigt und nun, wo niemand mehr mit ihm redet, vor seinem PC sitzt und danach giert, wenigstens mit Leserbriefen seinen Hass auf alle los zu werden, die immer noch aktiv oder jung sind und voller Elan sprühen.
    Auf der Demo waren ganz viele, die ich auch kürzlich auf der Seebrücke-Mahnwache gesehen habe und die ich aus der Flüchtlingsarbeit kenne. Der Antifa-Wagen auf der Demo war ein sichtbares Zeichen, dass die Demo aus diesem Spektrum ganz wesentlich mitorganisiert wurde. Die Unterstellung, dass der CSD nur eine Spaßveranstaltung ist, ist erschreckend unpolitisch, für jemanden der so tut, als wenn er links wäre. Wie verklemmt muss man sein, wenn man so über den CSD schreibt. Vor ein paar Jahrzehnte wurden Schwule bei uns noch in den Knast gesteckt. Wie ignorant muss man sein, wenn man nicht sehen will, wie existenziell nach wie vor in den meisten Ländern der Welt der Kampf um sexuelle Selbstbestimmung ist. Siehe https://ilga.org/maps-sexual-orientation-laws. Was für ein Menschenbild muss man haben, wenn man solche Kämpfe als rein hedonistisch diffamiert.
    Ein richtiger Satz über die Grünen macht aus diesem Frusterguss noch keinen ernst zu nehmenden Kommentar. Ich finde ihn sogar stellenweise menschenverachtend und Widerspruch ist angesagt.

  • Karsten Finke

    Lieber Norbert, lieber Roland.

    Es schmerzt sehr zu lesen, was ihr hier schreibt. Ihr versucht emanzipatorische Bewegungen zu spalten und sprecht allen Gruppen, außer eurer eigenen jede Existenzberechtigung ab. Anscheinend könnt ihr euch nicht in andere hineinversetzen und solidarisch sein. Ich habe am Samstag so viele glückliche Menschen gesehen, auch sehr viele junge Menschen, deren Körper von Selbstverletzungen gezeichnet waren, sehr wahrscheinlich, weil die Nicht-Akzeptanz ihrer Identität durch ihre Umwelt großes Leid erzeugt hat. Sie und viele andere waren glücklich. Wieso müsst ihr beide das hassen? Es gilt endlich die unterschiedlichen Kämpfe gemeinsam zu führen, solidarisch. Gegen die Klimakatastrophe, denn unter ihr leiden besonders die Menschen ohne finanzielle Ressourcen. Gegen den Kapitalismus, denn er beutet die Menschen aus, führt zu Kriegen und vernichtet Leben, insbesondere in Ländern, die nicht über Kapital verfügen. Für die Emanzipation des Individuums, für die gleiche Freiheit für alle, egal welcher Hautfarbe, welchen Geschlechts oder welcher Orientierung sie sind. Wir dürfen Solidarität und Freiheit niemals mehr gegeneinander ausspielen. Denn wir sollten alle für eine befreite Gesellschaft kämpfen.

  • Roland

    Tja, das Übliche. Systemische Kritik wird als individualisierte Kritik zurückgegeben.
    Bezeichnet man etwas als hedonistisch, ist man „frustriert“, „alt“, „Besserwisser“, „Hasser“, „Ignorant“, „menschenverachtend“. Hab ich was vergessen?
    Mir erscheint, das hier die Abwehr der rationalen Argumentation schon fast die Vorbereitung des Anti-Intellektualismus und des Altersrassismus ist.
    Hier die alten, tatenlosen Missmacher hinter dem PC (woher will man dies eigentlich wissen) – dort die jungen, aktiven Menschen voller Elan.

    Dies erinnert mich sehr an das Verhalten, dass ich vor ein paar Jahren an der Universität beobachten durfte:
    Sie: Anfang 20, Wortführerin der antifaschistischen und feministischen Kleingruppe im Seminar.
    Er: Mitte 50, im zweiten Bildungsweg zum Uniabschluss, zwei Kinder und eine demenzerkrankte Ehefrau
    Sie erklärt ihm, dass er zu alt zum Studieren sei. Er würde einem jungen Menschen den Studienplatz weg nehmen.
    Das Drumherum der jungen, hippen, elanhaften, feministischen, antifaschistischen Menschen im Seminar schwieg. – Wer schweigt stimmt zu!
    Altersrassismus? Klassismus? So what. Der Typ war doch alt!

    Jugend ist kein Merkmal für demokratisches Verhalten. Und Parties feiern kein Zeichen für Emanzipation.
    Das Aufmachen biologischer Merkmale unter dem Label „die da “ ist nichts weiteres als „othering“, „altersrassistisch“, wie auch „populistisch“.
    Für Demokratie und Emanzipation gibt es Erkennungsmerkmale: Im Verhalten, wie im Diskurs.

    Man merkt, das in Deutschland Demokratie immer nur etwas Formales war und geblieben ist. Auch in dem was sich Protestbewegung nannte und nennt.
    Konkret und substanziell wurde sie nie. Der „Autoritäre Charakter“ überwiegt in Deutschland. Und deswegen muss systemische Kritik auch immer individualisiert zurückgegeben werden. Oder frei nach Adorno: „…wer die Freiheit seines Geistes sich bewahrt hat, der ist also nach dieser Ideologie eine Art von Lump, und soll geschliffen werden. …“

Kommentare sind geschlossen.