Donnerstag 12.10.17, 17:27 Uhr
Eike Leidgens anlässlich der Jubiläumsfeier der MFH:

Der Dreck in der Wunde ist gesellschaftlich und politisch so gewollt


Eike Leidgens arbeitet als Psychologe im Therapieteam der Medizinischen Flüchtlingshilfe und berichtete auf der Jubiläumsfeier der MFH über Fragen und Antworten zu»m Sinn der eigenen Tätigkeit: Wir wurden gebeten unsere Arbeit im Therapieteam vorzustellen, haben überlegt, wie wir das machen können und ich denke, folgende kleine Szene beschreibt einen großen Teil unserer Arbeit sehr gut: Kommt ein Mann zum Arzt – Nur kurz vorweg, ich weiß, viele schlechte Witze fangen so an, aber keine Sorge, ich will keinen Witz erzählen, sondern versuche nur ein sprachliches Bild zu malen, wie das auch gerne in der Therapie gemacht wird, um etwas zu verdeutlichen: Also …
Kommt ein Mann zum Arzt mit einer großen entzündeten Wunde am Arm und fragt den Arzt, ob er ihm etwas gegen die Schmerzen geben könne. Der Arzt ist etwas verdutzt und sagt dem Patienten, das würde man so nicht machen, dafür müsse er zuerst etwas gegen die Entzündung tun, den Dreck aus der Wunde entfernen und die Wunde versorgen. Darauf der Patient: „Das habe ich auch schon versucht, aber der Dreck in der Wunde ist gesellschaftlich und politisch so gewollt.“

Die meisten Menschen, wenn sie „Therapie mit Flüchtlingen“ hören, denken an Krieg, schwere Gewalt und die gefährliche Flucht über das Mittelmeer – also die Behandlung seelischer Wunden / Trauma aus der Vergangenheit. Und die meisten Menschen denken, deswegen bräuchte ein Großteil der Flüchtlinge dringend eine Psychotherapie.
Dass viele Geflüchtete dringend eine psychotherapeutische Unterstützung brauchen, das ist richtig und unsere viel zu lange Warteliste für Therapieplätze zeigt es deutlich. Eine Versorgung im regulären Gesundheitssystem ist für die meisten ja oft nicht möglich. Aber die Ursachen für die Belastung nur in der Vergangenheit zu suchen, geht am Problem vorbei. Denn ein Großteil dieser Verletzungen aus der Vergangenheit könnte auch von alleine wieder heilen, wenn wir sie nur lassen würden. Die meisten seelischen Verletzungen aus der Vergangenheit könnten heilen, wie die Wunde des Patienten beim Arzt, wenn der Patient denn zur Ruhe kommen könnte.
Aber hier erwartet die Menschen Stress im Asylverfahren, eventuell ein Dublin-Verfahren, Ablehnungen, Warten in Ungewissheit, Gerichtsverfahren, wieder Warten, Stress bei den Behörden, Abschiebeandrohungen, Nachbarn werden abgeschoben, Arbeitsverbote, Wohnsitzauflagen, unhaltbare Zustände in den Heimen und damit oft keine Ruhe – keine Sicherheit zuhause, Probleme mit dem Familiennachzug, Familienmitglieder sind in Gefahr, ungewisse Zukunft, …
Dreck in den Wunden der Vergangenheit und die Wunden entzünden sich.
Und wir versuchen die Schmerzen zu lindern und etwas von der Last zu nehmen, obwohl die Entzündung noch immer da ist und weiter neue Schmerzen verursacht.

Wir haben uns Gedanken gemacht zu unserer Arbeit in den letzten Jahren und uns sind vor allem drei Fragen in den Kopf gekommen:
Die erste Frage stellen wir uns oft selbst,
ist das nicht eine Arbeit im Hamsterrad? Ein Kampf gegen Windmühlen? Können wir überhaupt etwas bewirken, oder bleibt nur Ohnmacht gegenüber den Problemen der Menschen?
In unserem privaten Umfeld hören wir oft die zweite Frage:
„Wie hältst du das nur durch mit deiner Arbeit, macht dich das nicht viel zu traurig?“ und die Fragenden denken dabei wieder an die schweren Geschichten und das Leid aus der Vergangenheit der KlientInnen.
Und auch die dritte Frage müssen wir uns manchmal kritisch stellen,
unterstützen wir nicht auch eine Parallelstruktur im Gesundheitswesen und sind wir für die Abschottungspolitik nur das Feigenblatt der Humanität und damit Teil des Systems?
Ich persönlich denke, wenn es so wäre, wenn wir alle diese Fragen mit „Ja“ beantworten müssten, es wäre eine unerträgliche Arbeit, die niemand von uns lange machen könnte und wir würden hier heute nicht 20-jähriges Jubiläum feiern können!
Warum können wir also 20-jähriges Jubiläum feiern, warum gibt es uns immer noch? Wir würden aus der Perspektive des Therapieteams gerne drei Antworten geben und auch Danke sagen:

Also wie kann man das aushalten?
Warum nicht ohnmächtig werden bei all den Problemen?

Erstens: Wir sind nicht alleine!
In den Gesprächen sind TherapeutInnen und KlientInnen fast nie alleine, wir stehen nicht alleine der Ungerechtigkeit und den Problemen gegenüber und wir möchten an dieser Stelle unseren vielen Dolmetschenden danken, die das, was oft so schwierig in Worte zu fassen ist, nochmal in unserer Sprache in Worte fassen, es auch auf ihren Schultern tragen und damit unsere Arbeit erst möglich machen! Vielen Dank für die gute Zusammenarbeit!
Und wir möchten den Menschen danken, die dafür sorgen, dass diese Arbeit uns nicht nur mit Sinn erfüllt, sondern auch einen Lebensunterhalt ermöglicht, die uns bei Problemen den Rücken stärken und uns möglichst viel von dem ganzen drum herum vom Hals halten, damit wir unsere Arbeit machen können. Den Kolleginnen und Kollegen aus dem Rechnungswesen, dem Fundraising, der Geschäftsführung und dem Vorstand, vielen Dank für die Rückendeckung und den Zusammenhalt und vielen Dank auch den Spendenden und den Institutionen, die uns unterstützen.
Und wir möchten auch besonders den Ehrenamtlichen danken. Den Mitarbeitenden der Vermittlungssprechstunde, die für unsere KlientInnen und viele andere in die Bresche springen, wenn das Gesundheitssystem versagt und Menschen von der Behandlung ausschließt. Und den Begleitungen, die KlientInnen zu den Behörden begleiten, zu wichtigen aber unsicheren angstbesetzten Terminen und den KlientInnen und uns damit ein großes Stück Sicherheit geben.
Und wir sind nicht nur als Therapeutinnen, sondern auch als Privatpersonen nicht alleine und möchten den Menschen, Familien, Freunden und Kolleginnen und Kollegen von ganzem Herzen danken, die nach Feierabend immer noch offene Ohren für uns haben und uns Halt und einen Ausgleich und Kraft geben!

Zweitens: Warum macht uns das nicht traurig, warum nicht ohnmächtig werden, warum weiter machen?
Dass wirklich schwer zu ertragende für uns selbst sind meist gar nicht die oft grausamen Geschichten, die Wunden aus der Vergangenheit, sondern wenn diese Geschichten nicht auf Anerkennung und mitmenschliche Zuwendung, sondern auf Ungerechtigkeiten und schlechte Zustände hier in Deutschland in der Gegenwart stoßen. Da geht es uns genauso, wie auch unseren KlientInnen.
Und das halten wir nur aus, Therapeutinnen und KlientInnen, indem wir diese Zustände eben nicht akzeptieren! Eben nicht nur Schmerzen lindern, sondern auch versuchen den Dreck aus der Wunde zu holen. So dass die Verletzungen auf der Seele dann auch heilen können.
Und dafür holen wir dann die Kolleginnen und Kollegen aus dem Sozialdienst mit ins Boot und kämpfen im Team mit den Betroffenen zusammen für ihr Recht und ihre Anerkennung und Rehabilitation.
Vielen Dank an dieser Stelle an euch, liebe KollegInnen aus dem Sozialdienst, für die gute Zusammenarbeit und die tatkräftige Unterstützung! Ich weiß nicht, wie die Therapeutinnen in anderen Institutionen überhaupt arbeitsfähig sind ohne, oder mit weniger Sozialdienst.
Und wenn wir dann an die Grenzen des Systems stoßen, dann müssen wir nicht die Hände in den Schoß legen und aufhören, dann holen wir die Kolleginnen der Öffentlichkeits- und Menschenrechtsarbeit mit dazu und arbeiten an der größeren Veränderung. Damit sich das System verändert und weniger Dreck in die Wunden der Menschen kommt. Damit wirklich Fluchtursachen bekämpft werden, in dem z.B. die Täter, Folterer und Kriegstreiber vor Gericht gebracht werden.
Damit alle Geflüchteten, die vor schweren Schicksalen geflohen sind, hier bei uns und auch bei den Behörden Anerkennung erfahren, damit unsere Gesellschaft sie nicht zusätzlich bedrückt und krank macht, sondern heilen und zur Ruhe kommen lässt, damit sie medizinische Versorgung bekommen können wie jeder andere Mensch auch, egal welche Papiere sie haben, oder Sprachen sie sprechen.
Auch vielen Dank an euch und die Partnerorganisationen, ihr seid unser psychohygienisches Ventil, wo wir Dampf ablassen können, wenn der Ungerechtigkeitsdruck mal wieder zu hoch ist und damit nicht Feigenblatt des Systems sind, sondern stets scharfe Kritikerin!
Für uns selbst im Therapieteam bedeutet dieser Teil der Arbeit dann in der Regel schreiben, schreiben, schreiben. Schreiben von Bescheinigungen und Gutachten, Briefen und Texten.
So dass beispielsweise der Klient, der in seinem Herkunftsland schwere Folter erlebt hat, seit 2 Jahren im Asylverfahren steckt, gerade eine Ablehnung vom Bundesamt bekommen hat – vor Gericht dann sein Recht bekommt, endlich ausreichend medizinisch versorgt wird, aus dem Heim ausziehen und sich eine Arbeit suchen darf.
Und wenn das geschafft ist, dann ist vielleicht auch schon keine Therapie mehr notwendig. Vielleicht gar nicht, oder vielleicht nicht jetzt, sondern später. Oder vielleicht ist gerade jetzt dann erst eine Therapie wirklich möglich. Genug Ruhe und Kraft, um sich dem Schmerz zu zuwenden, zu akzeptieren, dass ein Vergessen nicht möglich ist, so sehr du es dir auch wünschst, dass die Wunde heilen kann, aber immer eine Narbe auf der Seele bleibt.

Der dritte Grund diese Arbeit zu machen und weiter zu machen, sind unsere Klientinnen und Klienten. Wenn wir uns fragen, „wie schaffen die das nur?“ Und wir dann sehen, wie sie trotz all der schlimmen Erlebnisse und der widrigen Umstände immer wieder Kraft aufbringen, um durchzuhalten, zu warten, zu kämpfen, nicht aufzugeben, ihr Leben von neuem wiederaufzubauen und auch wieder das Gute zu sehen. Das ist inspirierend. Vielen Dank für Euer Vertrauen!«