Christian Cleusters, der Teamleiter der Medizinischen Flüchtlingshilfe in Bochum, hat am Sonntag im Bahnhof Langendreer ein kurzes Einführungsstatement mit dem Titel „Krise der Moral“ beim Neujahrsempfang verschiedener Initiativen abgegeben. Er hat sein Manuskript zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt: »Ich stehe hier als Vertreter der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum. 2012 habe ich dort angefangen und seitdem stelle ich immer wieder fest, dass auch langjährig Aktive nicht genau wissen, was wir machen. Wir sind mittlerweile 20 hauptamtliche Mitarbeiter und einige Ehrenamtliche und haben im Jahr 2016 ca. 1000 KlientInnen in den Bereichen Psychotherapie, psychosoziale – und Asylverfahrensberatung, der Medizinischen Vermittlungssprechstunde betreut und haben uns auch zu Themen der Flüchtlingspolitik auf verschiedenen Ebenen wieder mehr zu Wort gemeldet.
Einer unserer bereichsübergreifenden Schwerpunkte ist das Thema Unterstützung von Folterüberlebenden – ein Thema, was im nächsten Jahr wieder ganz weit oben auf der Agenda stehen muss, denn 2016 hat gezeigt für viele Staaten und Menschen ist Folter ein beruhigendes und vollkommen legitimes Instrument im Kampf gegen Terrorismus. Die Anti-Folterkonvention und der Kampf einer Großen Bewegung in den 80ern und 90ern ist zunichte gemacht. In einer Mehrzahl der Staaten der Welt wird zum Teil systematische gefoltert.
Ausverkauf der Menschenrechte:
Ich möchte das als Einstieg in das Thema Flucht und Migration benutzen, denn eines wird ganz deutlich: Wir haben keine Flüchtligskrise, sondern eine Krise der Moral, eine Krise der demokratischen und der so viel erwähnten europäischen Werte – und einen Ausverkauf der Menschenrechte.
Ich kann den Quatsch von Flüchtlingskrise nicht mehr hören. Es ist eine Krise der Aufnahmesysteme.
Ganz eindeutig zeigt sich das an aktuellen Aussagen meines langjährigen Lieblingspopulisten Innenminister Thomas De Maizière. Anlässlich der gesunkenen Flüchtlingszahlen 2016 lässt er verlauten: „Die Maßnahmen der Bundesregierung und der Europäischen Union haben gewirkt“ und man habe die Zuwanderung unter Kontrolle gebracht. Maßgeblich für die geringen Zahlen sei die Schließung der Balkanroute und der EU-Türkei Deal.
Er hätte auch sagen können: Wir haben Fluchtursachen bekämpft, in dem wir mit afrikanischen Diktatoren, die per Haftbefehlen vom Internationalen Strafgerichtshof gesucht werden, vereinbart haben, dass sie die Menschen von der Ausreise abhalten und planen sie in der Umsetzung zu unterstützen. Wir haben trotz massiver Menschenrechtsverbrechen einen Deal mit der Türkei gemacht, der Flüchtlingen einen angenehmen Aufenthalt in EU-finanzierten Knästen auf türkischem Boden garantiert und auch Abschiebungen nach Syrien in Kauf nimmt. Wir haben trotz Frontex und Nato-Mission mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken lassen als 2015 – obwohl deutlich weniger über diese Route kamen. Weil so viele gekommen sind, haben wir die Zahlen der Abschiebung vor allem in die sicheren Herkunftsstaaten auf dem Balkan massiv ausgeweitet. Dank der guten Kooperation mit rechtsradikalen Kollegen vor Ort verringert sich die Zahl der Flüchtlinge mit den sinkenden Temperaturen. Und wenn Orban wie gestern angekündigt alle Flüchtlinge inhaftiert, ist mit weiter sinkenden Zahlen zu rechnen.
Das schlimme ist, diese Maßnahmen scheinen legitim in Bezug auf die „Masse, Welle, Flut“ die uns überschwemmen würde, wenn wir uns nicht wehren.
Diese Argumentation taugt vorzüglich. Naturalismen entmenschlichen die Geflüchteten und Katastrophenvokabular macht deutlich, dass schnell agiert werden muss, um „vor die Lage zu kommen …“ Ist es nicht erschreckend, wie offen er zugibt, dass er die Menschenrechte tausender ignoriert hat und noch viel erschreckender wie viele applaudieren?
Je unsicherer die Menschen in Europa werden, je unsicherer sie gemacht werden, desto leichter lassen sich diese inhumanen Abwehrkonzepte legitimieren. Wenn man keine Gesichter und Geschichten kennt, ist eine versiegender Tsunami etwas positives, denn er bedroht uns ja nicht mehr.
Und nicht zu vergessen der Kampf gegen Kriminalität. De Maizière sagt dem Inhumanen in der Welt den Kampf an: „Die Entscheidung, wer nach Deutschland kommt, wird von Schleusern getroffen – das ist inhuman“.
Das ist das dreisteste Täuschungsmanöver, das sich das Europäische Grenzregime seit Jahren leistet. Die Entscheidung, auf Boote zu steigen und das Leben auf dem Weg nach Europa zu riskieren, treffen weder die Schleuser noch die Geflüchteten selbst, denn es gibt gar keine Wahlmöglichkeiten, wenn man zur Flucht gezwungen ist.
Die EU bekämpft illegale Migration und gibt vor, die inhumane Praxis der Schlepperbanden zu bekämpfen. Jeder Grenzübertritt ohne gültige Papiere ist Illegal. Ein Visum zwecks Asylantragsstellung gibt es nicht und die UNHCR Resettelment Kontingente sind viel zu gering. Es gibt kaum legale Zuwanderungsmöglichkeiten für Flüchtlinge. Also wird illegal eingereist. Da die EU im Kampf gegen kriminelle Schlepper und kriminelle MigrantInnen die Grenzen hoch zieht und militärisch aufrüstet werden die Reisen teurer, es entsteht großer Nährboden für Ausbeutung und die Zahl der Toten steigt.
Kriminalisierung ist ein perfides Kontrollinstrument, denn Kriminelle kann man mit aller Härte bekämpfen. Allerdings ist es ein Kampf der EU gegen eine selbst geschaffene Situation.
Wir haben keine Flüchtlingskrise sondern eine Krise der Moral.
Wir leben in einem Europa, in dem immer mehr Nationalstaaten rechtsradikal regiert werden oder in dem sich zumindest die Politiker von der rechtsradikalen Opposition am Nasenring durch die Manege schleifen lassen.
Das schönste Beispiel ist gerade Sarah Wagenknecht, die sich in ihrem frustrieren Kampf um Protestwählersstimmen tief aus dem Morast der AFD Argumentation bedient. Und das schon Anfang 2016 als sie anlässlich der Silvesternacht poltert: „Wer sein Gastrecht missbraucht, hat sein Gastrecht verwirkt.“
Und Ministerpräsidentin Hannelore Kraft geht nicht mit der AFD aufs Podium, weil mit denen redet man ja nicht. Das ist feige! Was für eine politische Strategie ist es, die Sorgen der besorgten Bürger ernst zu nehmen, aber das Feld trotzdem den AfD-Pfosten zu überlassen. Man muss ihnen gut informiert und öffentlich den Wind aus den Segeln nehmen.
Ich schaue auf das „Super-Wahljahr“ 2017 mit großer Sorge.
Und in Bochum?
Die letzte Pressekonferenz der Stadt zum Thema war übertitelt mit: Integrationsaufgabe löst Unterbringungsfrage ab.
Diese Dichotomie deutet an, dass wir denselben Fehler wieder erleben dürfen der bereits 2009 gemacht wurde: Es kommen weniger Flüchtlinge, jetzt können wir die Unterbringungskapazitäten reduzieren…. Es sollen nur noch drei reguläre Unterkünfte bestehen bleiben, alle anderen sollen nach Plan der Stadt geschlossen werden. Unterschied zu 2009: Zelte und Container sollen als Notfall Reserve dienen, die wird man gerade nicht los, weil sie für 5 Jahre gemietet sind.
Was für ein Trugschluss und wie fatal, dass Bochum fest mit angeblichen Übergangslösungen wie Zelten oder Containern plant und andere Unterbringungsformen reduziert. Leider können wir den Protest gegen unmenschliche Unterbringungsformen noch nicht at Acta legen.
Ein tolles Gesamtbild oder?
Und dann steht man manchmal da und denkt: „Was kann ich in dieser Situation überhaupt noch machen“.
Ich möchte Euch abschließend kurz sagen, was mir 2016 geholfen hat weiter zu machen und dem Frust über die immer widerlicher werdenden Zustände nicht nach zu geben.
Geholfen haben mir Initiativen wie die, die heute hier sind. Zum Beispiel der Refugee Strike und seine SupporterInnen. Eine Selbstorganisation, mit der sich Geflüchtete eine sehr laute Stimme auch über Bochum hinaus geschaffen haben.
Der Treffpunkt Asyl dessen Appelle z.B. zu Abschiebungen nach Afghanistan mittlerweile auch von sonst politisch eher zurückhaltenden Organisationen in Bochum unterschrieben werden.
Und die vielen anderen Ehrenamtsinitiativen in dem Bereich, die Begegnung schaffen und die in 2016 die Themen Menschenrechte, Antirassimus und Kriegsverbrechen auf die Straßen gebracht haben.
Wir haben in Bochum eine Stimme.
Positionen wie Abschiebung stoppen, für die man noch vor 3 Jahren belächelt wurde und für die man als „zu extrem“ abgestempelt wurde, finden heute breite Bündnisse.
Eine Vielzahl von Organisationen, die sonst nicht unbedingt politisch auf einer Linie sind, zeichneten einen Brief an die Veranstalter von Bochum Total, in dem es um rassistische Stereotypen in der Veranstaltungsankündigung geht und mehr als 5000 TeilnehmerInnen kommen zur Menschenkette gegen Rassismus.
Wir finden breite Bündnisse für unsere Positionen und gegen die oben beschriebenen eklatanten Missstände – und diese Gelegenheit sollten wir nutzen.«